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Naturkatastrophe Erdbebenopfer flüchten nach Bremen

Immer noch bebt die Erde im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien. Türkischstämmige Bremerinnen und Bremer wollen ihre betroffenen Angehörigen nach Deutschland holen. Welche Hürden gibt es?
22.02.2023, 05:00 Uhr
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Erdbebenopfer flüchten nach Bremen
Von Jürgen Hinrichs

Für Kenan Tiryaki steht fest: „Ich muss meine Familie nach Bremen holen.“ Mutter, zwei Brüder und eine Schwägerin, die beim Erdbeben in der Türkei alles verloren haben. „Sie haben dort keine Perspektive mehr“, sagt Tiryaki. Wohl aber in Bremen, meint er. Der 47-Jährige ist Unternehmer und betreibt in der Innenstadt am Liebfrauenkirchhof ein Café. Es wird gerade erweitert. Mehr Platz, mehr Kunden – Tiryaki kann Hilfe gut gebrauchen: „Meine Verwandten würden eine feste Anstellung bekommen.“ Allem voran sollen sie aber raus aus dem Chaos, möglichst schnell. „Die gehen da sonst kaputt.“

Es gibt Tausende solcher Fälle. Die Bundesregierung hat deshalb entschieden, für türkische Staatsangehörige, die von der Katastrophe betroffen sind, schneller und unbürokratischer Visa für die Einreise nach Deutschland zu gewähren. Tiryaki, der mit 18 Jahren aus der Türkei nach Delmenhorst gekommen ist und einen deutschen Pass besitzt, darf Angehörige ersten und zweiten Grades zu sich einladen – allerdings eigentlich nur für 90 Tage und ohne die Erlaubnis zu arbeiten. Das gleiche Recht haben Personen, die in Deutschland über einen dauerhaften Aufenthaltstitel verfügen.

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Die Besucher müssen für ihren Visa-Antrag einige Dokumente vorlegen, darunter den türkischen Pass, die Krankenversicherung und den Nachweis, vom Erdbeben besonders betroffen zu sein. Für die Verwandten von Tiryaki ist das nach seiner Darstellung kein Problem, sie haben ihre Papiere alle bei sich. Und dass ihr ehemaliges Zuhause nicht wieder aufgebaut werden kann, zeigen die Bilder, die der Bremer Unternehmer auf seinem Handy gespeichert hat.

Der Knackpunkt ist ein anderer: Wer die Erdbebenopfer nach Deutschland einlädt, muss eine Erklärung abgeben, die dazu verpflichtet, für alle Kosten aufzukommen, die durch die Verwandten entstehen. Das betrifft zum Beispiel Krankenhausaufenthalte und andere medizinischen Behandlungen, auch psychologische. Sind die 90 Tage um, können weitere Kosten zu Buche schlagen, darunter auch die einer Rückführung.

Nach Auskunft der Innenbehörde wurden in Bremen bislang 31 der sogenannten Verpflichtungserklärungen ausgestellt. Zuständig ist das Bürgeramt. Bis Ende der Woche seien 125 Termine für weitere Anträge vergeben worden. Die telefonischen Anfragen würden stetig zunehmen, so das Ressort. In den nächsten Tagen werde das Bürgerservice-Center in der Stresemannstraße noch mehr personelle Unterstützung bekommen, damit weitere Termine angeboten werden können.

Die Antragsteller sollen unter anderem angeben, über wie viel Einkommen sie verfügen. Und sie müssen garantieren, dass bei Bedarf pro Gast jeden Monat 300 Euro zur Verfügung stehen. „Wer kann sich das leisten?“, fragt Tiryaki. Einen Verdienst habe er wegen der Umbauarbeiten gerade nicht, könne ihn für die vergangenen Monate auch nicht nachweisen. Der Mann ist ratlos: „Ich bin für meine Familie in der Türkei die große Hoffnung, die einzige.

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Tiryakis Angehörige besaßen zwei Wohnungen in einem Mehrparteienhaus in der Provinz Hatay im türkisch-syrischen Grenzgebiet, wo es am Montagabend zwei weitere schwere Beben gegeben hat. Als sich in der Nacht zum 6. Februar der Boden jäh aufbäumte, stürzten die Mauern ein, das Haus sackte in die Knie. Knapp zwei Minuten die nackte Hölle. „Einer meiner beiden Brüder hat sofort reagiert, er hat die Familie gerettet“, erzählt Tiryaki, „niemand ist verletzt worden, kein Kratzer, das ist ein Wunder, ein echtes Wunder.“ Seine Verwandten wohnten in den oberen Etagen, und das war ihr Glück. Die beiden unteren Geschosse sind komplett eingedrückt, dort gab es kein Entkommen.

Die Familie ist jetzt auf engstem Raum bei Verwandten in Istanbul untergebracht. „Das kann nichts auf Dauer sein, zumal sie dort keine Arbeit finden.“ Bezahlbare Wohnungen gebe es auch nicht, die Mieten seien nach dem Erdbeben enorm gestiegen. Tiryaki sieht nur den einen Ausweg, und der liegt für ihn in Bremen mit seinem Café und in Delmenhorst, wo er mit Frau und zwei Kindern in einem Haus lebt: „Den Keller würde ich zu Wohnraum ausbauen, und unser Wohnzimmer ist so groß, dass es in zwei Räume geteilt werden kann.“

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