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Gas- und Energiekrise Andreas Bovenschulte: „Ich merke, dass die Sorgen wachsen“

Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte muss das Land durch Krisen steuern. Der Corona- folgt die Energiekrise. Im Gespräch schildert Bovenschulte, was die Bürger von ihm erwarten können.
24.07.2022, 05:00 Uhr
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Andreas Bovenschulte: „Ich merke, dass die Sorgen wachsen“
Von Silke Hellwig

Herr Bovenschulte, Sie entwickeln sich, freilich ohne es zu wollen, zum Krisenbürgermeister. Eine massive Krise mündet in die nächste. Wie geht man damit um?

Andreas Bovenschulte: Zum einen muss man offen und nüchtern feststellen, dass wir in einem ziemlichen Schlamassel stecken, denn es hilft bekanntlich nichts, die Augen vor der Realität zu verschließen. Zum anderen muss man sich seinen Optimismus bewahren und zuversichtlich bleiben, dass wir die Krise gemeinsam durchstehen werden.

Das heißt, die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos?

Ich würde sagen: Die Lage ist ernst, aber zu bewältigen – obwohl gerade mehrere Krisen zusammentreffen. Die Pandemie ist derzeit beherrschbar, aber wir wissen nicht genau, was im Herbst und Winter auf uns zukommen wird. Die Energiekrise steht momentan im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Klimakrise ist dagegen etwas in den Hintergrund gerückt, aber sie ist natürlich auch noch da.

Sie haben viel Kontakt zu Bürgern. Was bekommen Sie zu hören?

Ich nehme wahr, dass die meisten Menschen grundsätzlich zuversichtlich sind und davon ausgehen, dass wir die Krisen gemeinsam überwinden werden, so wie wir die schlimmsten Zeiten der Pandemie gemeinsam überwunden haben. Sie vertrauen darauf, dass wir in Bremen und Bremerhaven mit einer Ressource gut ausgestattet sind – mit der Ressource Solidarität. Aber trotzdem merke ich natürlich, dass die Sorgen wachsen. Vor einigen Wochen handelte es sich vielfach noch um ein abstraktes Unwohlsein, nach dem Motto: Wo soll das alles enden? Inzwischen sind die Nöte realer geworden und näher an die Menschen herangerückt, nicht nur bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Nicht nur bei Bürgerinnen und Bürgern, sondern wo noch?

Auch bei den Unternehmen. Vor ein paar Tagen habe ich mich mit einem erfolgreichen Bäckermeister unterhalten. Er hat mir erzählt, dass er Zeit seines Lebens einen gesunden Betrieb geleitet und alle Herausforderungen gemeistert habe. Vor drei Monate sei er noch voller Optimismus gewesen und habe Zukunftspläne geschmiedet. Aber jetzt werde ihm angst und bange angesichts der hohen zusätzlichen Kosten, die auf ihn zukommen.

Was haben Sie ihm gesagt? 

Ich habe ihm ehrlich gesagt, dass niemand die Auswirkungen der Energiekrise auf unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand ungeschehen machen kann, dass wir aber denjenigen helfen müssen, die aufgrund der steigenden Preise in existenzielle Not geraten. Wir dürfen da nicht nur auf die großen Unternehmen schauen. Wir brauchen auch Hilfsprogramme für kleinere Firmen und Handwerksbetriebe mit hohem Energiebedarf. Denn eines ist doch völlig klar: Die Menschen wollen nicht frieren, aber sie wollen auch ihren Arbeitsplatz behalten. Man kann die Bedarfe der Privathaushalte deshalb nicht gegen die Bedarfe der Unternehmen stellen.

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Was können Sie Bremerinnen und Bremern sagen, die eine karge Rente beziehen und Angst haben, ihre Gas- und Stromrechnung nicht mehr bezahlen können?

Bei den Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, werden die Kosten der Unterkunft von der öffentlichen Hand getragen. Das ist gut so, aber wir müssen auch an diejenigen denken, die mit ihrem Einkommen über der Grenze liegen und trotzdem nur so gerade über die Runden kommen. Ich bin deshalb sehr froh, dass die Bundesregierung jetzt einen Vorschlag zu einer großen Wohngeldreform vorgelegt hat. Der Kreis der Berechtigten soll ausgeweitet, Heizkostensteigerungen sollen einbezogen werden. Eines ist für mich klar: Es darf niemandem in unserem Land das Gas abgestellt werden, weil er oder sie die Rechnung auf Grund der gestiegenen Preise nicht mehr zahlen kann.

Es wird naturgemäß Bürger geben, die dennoch kein Wohngeld beziehen werden und sich große Sorgen machen, ob sie drei- oder vierfache Energiekosten stemmen können.

Die Energiekrise stürzt viele Menschen in existenzielle Unsicherheiten, die sich das vorher nicht haben vorstellen können. Denen müssen und wollen wir helfen. Aber staatliche Unterstützungsleistungen alleine werden nicht reichen. Wichtig ist auch, dass die allgemeine Lohnentwicklung mit der Inflation Schritt hält. Ziel muss es sein, die Realeinkommen zu sichern, ohne dass es zu einer Preis-Lohn-Spirale kommt. Zugegeben, eine schwierige Aufgabe für die Sozialpartner.

Wenn der Bäckermeister, von dem Sie vorhin sprachen, höhere Löhne zahlen soll, wird die Lage für ihn noch schwieriger.

Da ist was dran. Aber wenn die Reallöhne auf breiter Front sinken, verliert er Kunden, weil die sich das Sonntagsbrötchen nicht mehr leisten können. Auch das wäre also zu seinem Schaden. Das Beispiel zeigt, vor welchen Dilemmas wir derzeit stehen. Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir mit einer klugen Politik die wirtschaftliche Lage stabilisieren können. Wir haben viel aus der Corona-Krise gelernt, was Unterstützungsprogramm und -instrumente für große, kleine und mittlere Unternehmen betrifft.

Trotzdem wird darüber nachgedacht, Wärmeinseln für die Bevölkerung einzurichten.

Wir wollen gewappnet sein, falls aus der derzeitigen Energiepreiskrise eine echte Energieversorgungskrise werden sollte. Wir setzen zwar alles daran, dass es nicht so weit kommt, aber wir müssen auf den schlimmsten Fall vorbereitet sein, alles andere wäre fahrlässig. Deshalb schauen wir uns nach geeigneten Räumen um, die ans Fernwärmenetz angeschlossen sind, in denen es also auch ohne Gas warm wird.

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Niemand soll frieren, niemand soll den Arbeitsplatz verlieren. Nicht ausgemacht ist, dass beides dauerhaft zu leisten ist, wenn Gas noch knapper werden sollten. Machen Sie sich Sorgen, dass es zu Verteilungskämpfen kommen könnte?

Eine Versorgungskrise würde uns ohne jeden Zweifel vor sehr große Herausforderungen stellen. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft auch damit umgehen könnten, solange die Menschen das Gefühl haben, dass es bei der Krisenbewältigung gerecht zugeht, solange die damit verbundenen Härten unvermeidbar sind und alle gleichermaßen treffen. 

Wie soll die staatliche Hilfe finanziert werden? Reicht es, die Schuldenbremse weiter auszusetzen? Für besondere Notlagen sieht das Grundgesetz Spielraum vor.

Das ist richtig. Aber das entbindet uns nicht davon, bei der Aufnahme neuer Schulden mit Augenmaß vorzugehen. Investitionen über Kredite zu finanzieren, ist das eine. Aber dauerhafte Unterstützungsleistungen auf Pump? Das ist etwas völlig anderes. Am Ende werden wir zur Finanzierung der notwendigen staatlichen Hilfsprogramme zusätzliche Einnahmen brauchen, zum Beispiel durch eine gesonderte Besteuerung kriegsbedingter Übergewinne.

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Aber der Vorstoß für eine sogenannte Übergewinnsteuer ist doch gerade im Bundesrat gescheitert.

Union und FDP haben die Übergewinnsteuer im Bundesrat leider blockiert. Aber damit ist das objektive Problem nicht verschwunden. Auch diese Parteien müssen sich der Frage stellen, wie die staatlichen Hilfsprogramme dauerhaft finanziert werden können. Auf die Antworten bin ich gespannt. Vielleicht kommt die Übergewinnsteuer schneller wieder auf den Tisch, als wir uns das jetzt vorstellen können.

Falls die Gaslieferungen versiegen sollten – meinen Sie, Deutschland könnte sich auf europäische Solidarität verlassen?

Ich hoffe das, immerhin zeigen auch wir uns solidarisch. Aktuell exportiert Deutschland Strom nach Frankreich, weil dort Atommeiler ausgefallen sind, obwohl ein Teil dieses Stroms von Gaskraftwerken produziert wird – mit Gas, das wir eigentlich dringend für den Winter einspeichern müssten. Das machen wir in dem Bewusstsein, dass wir nicht nur auf uns gucken dürfen. Solidarität ist das Schlüsselwort zur Lösung der Krise.

Apropos Atommeiler – würden Sie mittragen, dass Atomkraftwerke länger laufen als geplant und erst abgeschaltet werden, wenn die Flüssiggas-, Windkraft- und Solarenergie-Kapazitäten besser ausgebaut sind?

Ich halte das für eine Scheindebatte. Der Anteil des Atomstroms ist in Deutschland so gering, da geht es vor allem um politische Symbolik. Dass ausgerechnet Politiker aus Bundesländern, die die Energiewende weitgehend verschlafen und sich aus der Endlagerfrage herausgehalten haben, nun so tun, als wäre der Atomausstieg ein Fehler gewesen, das muss zum Widerspruch reizen.

Wo stehen Sie?

Ich bin der Meinung, dass man die Frage pragmatisch beantworten muss. Wir müssen die bittere Pille schlucken, dass wir unsere Kohlekraftwerke länger als geplant nutzen müssen, ökologisch nicht der schönste Weg, aber alternativlos. Die bestehenden Atomkraftwerke einige Monate länger laufen zu lassen würde dagegen keinen relevanten Beitrag zur Lösung unserer Versorgungsprobleme leisten.

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Wenn die eigene Bevölkerung zu leiden beginnt, wächst der Druck, diplomatische Gespräche mit Russland zu intensivieren. Was sagen Sie dazu?

Es bleibt dabei, dass es sich um einen verbrecherischen Angriffskrieg handelt. Das können wir nicht hinnehmen, da dürfen wir nicht einfach einknicken. Die Sanktionen bleiben deshalb grundsätzlich richtig. Aber man muss sich natürlich immer wieder die Frage stellen: Welche Maßnahmen haben eine Wirkung auf den Angreifer und welche treffen das eigene Land? Und je nachdem wie die Antwort ausfällt, muss der eigene Kurs gegebenenfalls neu justiert werden.

Trotzdem finanziert Deutschland als Gaskunde den Krieg Russlands gewissermaßen mit.

Das stimmt und das zeigt noch einmal das moralische Dilemma, mit dem wir derzeit konfrontiert sind.

In zehn Monaten wird im Land Bremen gewählt. Sie müssen Bremen durch Krisen managen, da bleibt anderes auf der Strecke. Die Bilanz der Regierung könnte ziemlich mau ausfallen ...

Keine Frage, die verschiedenen Krisen binden enorme Ressourcen, finanziell und personell. Darunter leidet zum Teil die Bearbeitung anderer Themen. Andererseits bietet jede Krise, auch wenn es sich klischeehaft anhört, neue Chancen. Die Pandemie hat einen enormen Digitalisierungsschub ausgelöst. Beispielhaft sei auf die flächendeckende Einführung von iPads in unseren Schulen verwiesen. Und die Gaskrise wird die Energiewende absehbar enorm beschleunigen. Insofern bleibe ich optimistisch, was die längerfristigen Aussichten betrifft.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

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Zur Person

Andreas Bovenschulte

ist seit dem 15. August 2019 Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen. Zuvor war der Jurist für einige Wochen SPD-Fraktionschef. Davor Bürgermeister in Weyhe (2014 bis 2019), SPD-Landesvorsitzender in Bremen (2010 bis 2013).

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