Die Befürchtungen von Krebsspezialisten sind offenbar eingetroffen: In der Pandemie ist die Zahl der Krebsdiagnosen teilweise deutlich zurückgegangen. In Bremen wurden im ersten Pandemiejahr 23 Prozent weniger Krebserkrankungen festgestellt, in Niedersachsen fällt der Rückgang um 30 Prozent im Vergleich zu den Jahren 2017 bis 2019 noch deutlicher aus. Das geht aus einer Analyse der Krankenkasse Barmer hervor. „Dass weniger Krebsdiagnosen gestellt wurden, muss nicht heißen, dass es tatsächlich weniger Krebserkrankungen gab“, ordnet die Bremer Landesgeschäftsführerin der Kasse, Heike Sander, die Zahlen ein. Der Rückgang habe möglicherweise damit zu tun, dass die Menschen aus Sorge vor einer Corona-Infektion Kliniken und Arztpraxen gemieden hätten.
Krebsmediziner hatten bereits nach dem ersten Corona-Jahr vor dieser Entwicklung gewarnt: Studien zeigten, dass die Pandemie die Krebsfrüherkennung und die Nachsorge regelrecht ausgebremst hat. Bei einer Forsa-Befragung im Auftrag der Krankenkasse AOK im Mai vergangenen Jahres gab jeder fünfte Befragte an, dass er wegen Corona nicht zu Krebsvorsorgeuntersuchungen gehen konnte oder wollte. „In den Gipfeln der Pandemie ist auch die Zahl der Nachsorgepatienten um 30 Prozent gesunken“, sagte der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, Thomas Seufferlein, dem „Deutschen Ärzteblatt“.
Späte Diagnosen führen laut dem Bremer Krebsspezialisten Jörg Gröticke dazu, dass er und seine Kolleginnen und Kollegen es immer häufiger mit Krebserkrankungen in einem fortgeschrittenen Stadium zu tun hätten: „Fast täglich sehen wir dies in unseren Tumorkonferenzen. Vor allem handelt es sich dabei um Patientinnen und Patienten mit Magen-, Darm-, Bauchspeicheldrüsen- und Leberkrebs sowie Lungentumoren und Erkrankungen des Immunsystems“, berichtet der leitende Oberarzt am Klinikum Bremen-Mitte. „Das ist wirklich eklatant.“ Gerade bei fortgeschrittenen Stadien von Magen-, Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie Tumoren der Lunge sei die Prognose ungünstiger, betont der Arzt. Im Februar dieses Jahres hatte die Deutsche Krebshilfe vor einer erhöhten Sterblichkeit von Krebskranken als Spätfolge der Pandemie gewarnt.
Laut der Barmer-Analyse sind die Diagnosen bei Krebs der Verdauungsorgane in Niedersachsen um 23 Prozent und in Bremen um etwa sieben Prozent zurückgegangen. Bei Prostatakrebs waren es 28 Prozent (Bremen) und 21 Prozent (Niedersachsen), bei Brustkrebs 36 Prozent (Niedersachsen) und 26 Prozent (Bremen). Am stärksten fiel der Rückgang bei Hautkrebs mit 42 Prozent (Niedersachsen) und 36 Prozent (Bremen) aus.
Für Erkrankungen wie Darmkrebs, Haut- oder Gebärmutterhalskrebs gibt es Früherkennungsprogramme der gesetzlichen Krankenkassen: Bei einer Darmspiegelung etwa könnten Krebsvorstufen erkannt, gleich beseitigt und damit der Krebs sogar verhindert werden, teilt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mit. Allerdings nutzten immer noch zu wenige Menschen die Möglichkeiten der Krebsvorsorge – auch schon vor der Pandemie.
Krebsprävention: Bremen ist Modellregion
Die Krebsprävention in Deutschland soll verbessert werden – und Bremen spielt dabei eine herausragende Rolle. Die Hansestadt ist seit Kurzem bundesweite Modellregion. „40 Prozent der Krebsfälle könnten durch Prävention verhindert werden“, sagt Ulrike Haug, Abteilungsleiterin am Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). Das Vorhaben ist Teil der „Nationalen Dekade gegen Krebs“, die 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufen worden war.
Die BIPS-Forscherinnen und -Forscher wollen Maßnahmen für eine effektivere Krebsprävention entwickeln, diese zunächst in Bremen umsetzen und ihre Wirksamkeit untersuchen – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. „Es geht um Risikofaktoren wie Rauchen, ungesunde Ernährung, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und Übergewicht und auch um Früherkennungsuntersuchungen“, sagt Haug. In die 40 Prozent Krebsfälle, die verhindert werden könnten, seien Früherkennungs- und Vorsorgeprogramme nicht hineingerechnet.
Als ein Beispiel nennt Haug die Impfung gegen humane Papillomviren (HPV), die für Mädchen und Jungen zur Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs empfohlen wird: „In Bremen etwa liegen wir mit einer Rate von unter 40 Prozent deutlich hinter dem EU-weiten Ziel von 70 bis 80 Prozent zurück“, so Haug. In der ersten Phase sollen Daten gesammelt werden: etwa von Krankenkassen und aus Schuleingangsuntersuchungen. Erwachsene Bremerinnen und Bremer sollen außerdem befragt werden. „Dies wird voraussichtlich im nächsten Jahr starten“, so Haug.