So richtig sicher fühlt sich Alexandra Werwath nicht mehr. Nach der Prügelattacke auf den sächsischen SPD-Europapolitiker Matthias Ecke geht die Bremer Grünen-Kandidatin für die Europawahl nach Möglichkeit nicht mehr allein zum Plakatekleben. Bei ihrem ersten Einsatz am Infostand in der Obernstraße hat sie ein „deutlich aggressiveres Auftreten“ im Publikum bemerkt. Verbale Entgleisungen kennt auch die SPD-Kandidatin Annika Barlach. Um ihre Sicherheit macht sie sich nach eigener Angabe zwar keine Sorgen, die frühere Unbeschwertheit ist aber dahin. „Ich gehe davon aus, dass uns Menschen verbal angehen werden“, sagt die 35-Jährige.
Der Angriff auf Ecke beim Plakatieren am Freitagabend in Dresden hat eine Debatte entfacht, zumal bereits kurz zuvor grüne Wahlkämpfer und am Sonnabend auch ein AfD-Landtagsabgeordneter an einem Infostand im niedersächsischen Nordhorn attackiert worden waren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) fordert ein hartes Vorgehen des Rechtsstaats, sie will „mit weiteren Schutzmaßnahmen für die demokratischen Kräfte in unserem Land“ reagieren. Aus Bremen fällt die Antwort eher verhalten aus. Der wirksamste Schutz für Wahlkampfhelfer und Politiker könne nur darin bestehen, Beleidigungen oder gar Bedrohungen und Übergriffe umgehend anzuzeigen, sagt Rose Gerdts-Schiffler, Sprecherin des Innenressorts. Polizeischutz für Wahlkampfhelfer sei dagegen „personell nicht darstellbar“.
Werwath sieht in den Übergriffen eine direkte Folge einer Ankündigung des damaligen AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland nach der Bundestagswahl 2017. „Wir werden sie jagen, wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen“, so Gauland damals. „Seinen Worten folgen jetzt die Taten“, sagt Werwath. Angesichts der jüngsten Vorfälle ist die 31-Jährige auf der Hut. „Das macht etwas mit einem.“ Ähnlich ergeht es Barlach, wenn sie ohne Begleitung beschädigte Wahlplakate in Ordnung bringt. „Man fühlt sich beobachtet, es ist ein komisches Gefühl.“
Ein Gefühl der Bedrohung bei Wahlkampfaktivitäten ist auch dem Bremer AfD-Landesvorsitzenden Sergej Minich nicht fremd. „Das ist bei uns seit zehn Jahren so“, sagt Minich. An Infoständen seien Beleidigungen an der Tagesordnung, die Polizei halte sich in Sichtweite auf. Nach Einschätzung der Sicherheitskräfte sei die AfD in Bremen stark gefährdet. Die aktuelle Debatte um verstärkte Schutzmaßnahmen empfindet Minich als unaufrichtig. „Früher wurde es mit Stillschweigen hingenommen, wenn nur wir attackiert wurden.“
Bei Anfeindungen gegen Parteirepräsentanten ist eine auffallende Verschiebung zu registrieren. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD hervorgeht, richteten sich verbale Attacken bis 2021 meistens gegen AfD-Vertreter, seither sind vor allem Grüne die Leidtragenden. Nach vorläufigen Zahlen für 2023 wurden Grüne 1219-mal angepöbelt, AfD-Vertreter 478-mal. Ähnlich bei körperlichen Attacken: 2021 wurden 120 Angriffe auf AfD-Vertreter gezählt, 42 auf Grüne. Im Folgejahr 2022 sank die Zahl der Attacken auf AfD-Vertreter auf 40, gleichzeitig stieg die Zahl der Angriffe auf Grünen-Vertreter auf 51. Nach den aktuellsten Zahlen von 2023 sind wieder AfD-Vertreter mit 86 Angriffen am meisten gefährdet, Grüne wurden 62-mal, SPD-Vertreter 35-mal attackiert.
Für Werwath liegt auf der Hand, warum neuerdings die Grünen so häufig angegriffen werden. „Wir sind die Hauptfeinde der politischen Rechten“, sagt sie, „weil wir für ein offenes, liberales und tolerantes Europa einstehen“. Wie ihre SPD-Kollegin Barlach registriert sie die Solidaritätsbekundungen mit Genugtuung. Werwath appelliert an die Zivilcourage ihrer Mitbürger. „Keiner darf weggucken, wenn Wahlkämpfer angegangen werden.“ Unterdessen betont Minich, politische Diskurse dürften nicht mit Gewalt ausgetragen werden: „Sollte jemand aus unserem Landesverband übergriffig werden, fliegt er sofort raus.“
Die angeheizte Stimmung macht sich laut Werwath und Barlach in Form beschädigter Wahlplakate bemerkbar – und zwar früher als bisher. Die Konsequenz: Die Grünen bringen ihre Wahlplakate höher an, um Unbefugten den Zugriff zu erschweren. Das Innenressort kann nicht bestätigen, dass mehr Wahlplakate als früher beschädigt werden. Bei der AfD hat man aus leidiger Erfahrung noch nicht plakatiert. „Unsere Plakate werden abgerissen oder woanders aufgehängt – mit der Folge, dass wir dann Bußgelder vom Ordnungsamt kassieren“, sagt Minich. Im Viertel verzichte seine Partei wohlweislich auf Plakate, noch in dieser Woche wolle man aber in Stadtteilen mit Wählerpotenzial mit dem Plakatieren beginnen.