Herr Koehler, man hört und liest sehr viel darüber, dass insbesondere Russland versucht, mit Desinformationen Wahlen zu beeinflussen. Hat der Verfassungsschutz Erkenntnisse darüber, dass das auch bei der anstehenden Bundestagswahl so ist?
Thorge Koehler: Ja, wir sehen momentan, wie solche Tendenzen in der gesamten Bundesrepublik hochgefahren werden. Und es dürfte bis zur Bundestagswahl am 23. Februar noch mehr werden.
Auch in Bremen?
Ja, das gibt es selbstverständlich auch bei uns in Bremen. Von außen wird versucht, sehr zielgruppenorientiert zu arbeiten. Das bedeutet, dass man versucht, Themen zu identifizieren, die man aufgreifen kann, sowohl bundesweit oder auch regional. Auch in Bremen gab es schon wiederholt die Verbreitung von Desinformationen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben im Zuge von der Nutzung des Bremerhavener Hafens als Umschlagplatz für Rüstungsgüter Desinformationen festgestellt. Da wurden durch ausländische Akteure gezielt falsche Informationen verbreitet. Denen zufolge sollen für die Ukraine bestimmte Waffenlieferungen angeblich umgeleitet und der Hamas im Kampf gegen Israel zur Verfügung gestellt worden sein. Eine völlig absurde Geschichte, die aber mit vermeintlich aus Bremerhaven stammenden Bildern unterlegt wurde. Und genau diese Falscherzählungen sind dann zum Beispiel von extremistischen Gruppierungen aus Bremerhaven oder auch aus Bremen aufgegriffen und weiterverbreitet worden.
Wie wird bei der Verbreitung von Falschinformationen vorgegangen?
Wenn Falschinformation verbreitet werden sollen oder irgendein Ereignis mit einem unwahren Narrativ hinterlegt werden soll, das im Interesse des ausländischen Staates liegt, kommen Bot-Netzwerke ins Spiel, die von diesem ausländischen Staat entweder unmittelbar oder durch Dritte betrieben werden.
Computerprogramme, die sich wiederholende Aufgaben weitgehend automatisch ausführen?
Richtig. Und die sorgen dann erst mal dafür, dass eine entsprechende Schlagzeile oder Nachricht in den sozialen Medien Reichweite erhält. Das heißt, dass wir plötzlich an 200.000 Stellen eine Veröffentlichung dieser Nachricht finden. Was suggeriert, dass da tatsächlich auf einmal eine Relevanz in der Berichterstattung vorliegt und sich vermeintlich sehr viele Menschen in den sozialen Medien dafür interessieren. Das ist aber eine Illusion. Das sind alles nur Bots, da stecken keine tatsächlichen Menschen hinter.
Soziale Medien werden also von dieser Nachricht überschwemmt und eventuell auch von seriösen Medien aufgegriffen?
Zunächst wird auf diese Weise ein neuer Trend in den sozialen Medien geschaffen, der faktisch, also in der Realität, aber gar nicht existiert. Es gibt keine Person, die dies zu diesem Zeitpunkt weitergeleitet hat. Das kommt dann erst in einem zweiten Schritt. Wenn nämlich diese Trends, diese Falschnachrichten von realen Personen aufgegriffen werden. Ihnen wird suggeriert, dass es ein großes Thema gibt, weil es ja an unterschiedlichen Stellen mit vielen Verlinkungen und ganz vielen Reposts auftaucht. So nimmt das Fahrt auf, jetzt auch bei tatsächlichen Personen, die dies ihrerseits weiterverbreiten.
Es gibt aber auch Personen, die Falschnachrichten bewusst weiterverbreiten?
Die kommen noch hinzu. Zum Beispiel Influencer, die entweder gegen Geld oder aus ideologischer Überzeugung genau auf solche Informationen warten und sie in ihren jeweiligen Communitys weiterverbreiten. Und plötzlich haben wir eine ausgedachte Nachricht, die objektiv unwahr ist, die aber die sozialen Medien überschwemmt. Und dann denken Leute, dass es tatsächlich eine ernst zu nehmende Gefahr gibt.
Können Sie auch dies an einem Beispiel erläutern?
Nehmen wir hier ein fiktives Beispiel: Die erfundene Nachricht, ein Bremer Landespolitiker habe sich dafür eingesetzt, dass jetzt doch Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine geliefert werden sollen. Über unterschiedliche Verbreitungsebenen im Netz erreicht das dann eine wahnsinnige Reichweite. Und plötzlich sind Menschen verunsichert, weil das plötzlich an so vielen Stellen aufgetaucht und von so vielen Leuten gesagt wird. Möglicherweise führt das dazu, dass auch seriöse Medien diese Nachricht aufgreifen, weil sie in den sozialen Netzwerken darüber gestolpert sind.
Die würden dann aber als Erstes den Politiker fragen, der es richtigstellen könnte.
Für seriöse Medien wäre dies wohl die normale Arbeitsweise. Aber die Falschbehauptung wäre trotzdem in der Welt. Und die verfängt bei einigen Leuten. Auf diese Weise funktioniert das. Aber nicht nur einmal, sondern manchmal tausendfach an einem Tag. Gerade weil es solche Massen sind, ist es wahnsinnig schwer, festzustellen, ob die Nachricht seriös ist, oder eine vielleicht ausländisch initiierte Falschmeldung.
Für wie gefährlich schätzen Sie so etwas ein?
Das Problematische daran ist, dass hinter dieser Strategie riesige Ressourcen stecken. Es gibt ganze Dienststellen oder auch private Firmen, die sich den gesamten Tag mit nichts anderem beschäftigen, als mit der Verbreitung von Desinformation. Vieles passiert da zwar automatisch, aber da steckt tatsächlich ein sehr stark ausdifferenziertes System dahinter, das umfassend analysiert, was gerade Nachrichtentrends in Deutschland sind. Wo kann man sich gut draufsetzen? Wo gibt es möglicherweise Angriffsfläche, um Verunsicherung zu schaffen?
Verunsicherung ist das eigentliche Ziel?
Einerseits, ja. Um Zweifel an der Staatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit, an demokratischen Institutionen oder auch an den seriösen Medien zu säen. Das übergeordnete Ziel ist jedoch, die Bundesrepublik als geopolitischen Akteur insgesamt zu schwächen.
Geht es dabei auch um Vertrauen in die Politik?
Natürlich. Indem man das Vertrauen der Menschen in die demokratischen Akteure schwächt, macht man die extremistischen Ränder stark. Je stärker eine Opposition innerhalb einer Demokratie ist, die diese Demokratie aber womöglich selbst gar nicht ganz so hochhält und anfällig ist für zum Beispiel prorussische Narrative, desto besser ist das aus Sicht des ausländischen Akteurs. Desto mehr profitiert er davon.
Amerika, in diesem Fall Elon Musk, geht da gerade weniger subtil vor. Er wirbt einfach direkt für die AFD?
Wir haben es bei den beschriebenen Desinformationskampagnen tatsächlich mit einem ganz anderen Ansatz zu tun. Mit einem subtilen, sehr perfiden System, das auf unterschiedlichen Ebenen angreift, um unsere Demokratie zu destabilisieren.
Und auf der nächsten Ebene dann die europäische Einheit? Kommt einem so vor wie der Kalte Krieg, nur diesmal in digitalisierter Form.
Exakt. Wir sprechen von hybriden Bedrohungen, die die sich aus ganz unterschiedlichen Elementen zusammensetzen. Die Desinformation geht zum Beispiel Hand in Hand mit Cyberangriffen wie etwa sogenannten „Hack and Leak“-Operationen, die sich zielgerichtet gegen einzelne Akteure wenden.
Wie funktionieren die?
Man versucht, an Daten von einzelnen Personen des öffentlichen Lebens zu kommen – von Politikern, aber auch anderen –, die eine sehr klare Position vertreten, die nicht im Sinne des ausländischen Akteurs ist. Mit Hilfe dieser Daten wird dann versucht, ihnen irgendwelche Behauptungen unterzuschieben oder zu suggerieren, dass man in ihrem Namen etwas veröffentlicht oder etwas tut. Dies alles mit dem Ziel, die Person zu diskreditieren und so ihre Position zu schwächen beziehungsweise sie insgesamt unglaubwürdig zu machen.
Sind diese unterschiedlichen Angriffe aufeinander abgestimmt?
Sie greifen ineinander, sind miteinander vernetzt. Desinformation, Spionage, Einflussnahme, Cyberangriffe – es geht um ein Konglomerat aus verschiedenen Angriffsvektoren. Das macht das Ganze so gefährlich und im schlimmsten Fall auch besonders wirkungsvoll.
Und dies alles geht vor allem von Russland aus?
Russland ist nicht der einzige Akteur, der mit entsprechenden Mitteln operiert. Er ist momentan aber eindeutig der dominanteste Akteur. Durch die Entwicklung der letzten Jahre hat Russland aus der eigenen Sicht heraus inzwischen deutlich weniger zu verlieren. Das bedeutet, man geht skrupelloser vor, als man es vielleicht noch vor drei Jahren getan hätte, als man noch mehr auf Partnerschaft aus war. Das ist jetzt weg. Jetzt wird mit großer Härte und einer großen Zielstrebigkeit versucht, die entsprechenden Operationen umzusetzen.
Unter anderem mit dem Ziel, die AFD oder das BSW für die Bundestagswahl zu pushen?
Wer genau nach vorne gepusht werden soll, wird erst eine nachträgliche Auswertung zeigen können. Klares Ziel ist aber, die demokratischen Kräfte zu schwächen. Dafür werden die demokratischen Parteien auf unterschiedliche Weise angegriffen. Im Grunde gilt aber die einfache Gleichung: Je mehr Unterstützung für die Ukraine, desto wertiger ist die jeweilige politische Position als Angriffsziel.
Was kann man als Bürger gegen diese Angriffe tun?
Wichtig ist, dass man versucht, sich möglichst seriöser Quellen zu bedienen, beziehungsweise immer versucht, Nachrichten, über die man in den sozialen Medien stolpert, gegenzuchecken. Eines ist mir dabei wichtig: Man kann ganz unterschiedlicher Meinung sein und auch sehr kontrovers miteinander diskutieren. Das gehört in einer pluralistischen Demokratie dazu. Aber wir brauchen den gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass wir das immer auf Faktenbasis tun, nicht auf der Basis von Behauptungen. Und da ist jede Bürgerin und jeder Bürger ein Stück weit auch selbst dafür verantwortlich, dazu beizutragen.
Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel, indem man vorsichtig beim Teilen von Informationen ist. Das wäre ein wichtiger Schritt. Die Desinformationswellen, die ich eingangs beschrieben habe, gehen meistens automatisiert durch Bots los. Richtig groß werden sie aber immer durch tatsächliche Menschen, die die Falschinformationen weiterverbreiten.