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Landgericht Bremen Urteile gegen Drogendealer: Ein Freispruch und 504 Jahre Gefängnis

In den sogenannten Encrochat-Prozessen gegen Drogendealer wurden bislang in Bremen insgesamt über 500 Jahre Freiheitsstrafen verhängt. Doch es ist nicht sicher, dass diese Urteile Bestand haben werden.
17.10.2023, 05:00 Uhr
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Urteile gegen Drogendealer: Ein Freispruch und 504 Jahre Gefängnis
Von Ralf Michel

Die am Bremer Landgericht in den vergangenen zweieinhalb Jahren verhängten Gefängnisstrafen in den sogenannten Encrochat-Prozessen haben das halbe Jahrtausend überschritten. Zu insgesamt 504 Jahren und zehn Monate addierten sich die Haftstrafen für Drogendealer aus Bremen. Ob die allerdings Bestand haben werden, ist weiterhin nicht geklärt. 

Encrochat ist der Name des verschlüsselten Kommunikationssystems eines holländischen Software-Anbieters. Es versprach seinen Nutzern perfekte Anonymität, weshalb es besonders bei Kriminellen beliebt war. 2020 gelang es IT-Experten der französischen und der niederländischen Polizei jedoch, den Server des Unternehmens zu infiltrieren. Drei Monate lang konnten die Ermittler unbemerkt mitlesen, wie Nutzer des Dienstes über Rauschgifthandel, Waffenschiebereien, Erpressungen oder sogar Mord chatteten. Von den etwa 66.000 Nutzern, deren Daten gesichert wurden, hatten 4500 einen Deutschlandbezug. 500 davon führten zu Smartphones in Bremen.

Prozesslawine in Europa

Die Ermittlungen wurden zum Ausgangspunkt für eine einzigartige Prozesslawine in ganz Europa. Allein in Bremen wurden bislang in 51 Prozessen 87 Personen verurteilt, fast ausschließlich Männer. Die höchste dabei ausgesprochene Einzelstrafe betrug zwölfeinhalb Jahre, die niedrigste ein Jahr und drei Monate. Nur einer der Angeklagten wurde freigesprochen, hinzu kamen drei Teilfreisprüche, berichtet Stephanie Dehne, Pressesprecherin der Justizbehörde. 35 der Verfahren sind rechtskräftig abgeschlossen, 16 noch nicht. 

Das Ende der Fahnenstange ist mit den fast 505 Jahren noch lange nicht erreicht. In 33 weiteren Verfahren hat die Staatsanwaltschaft bereits Anklage erhoben, in noch einmal acht Fällen steht dies bevor, sagt der Sprecher der Bremer Staatsanwaltschaft, Frank Passade. Darüber hinaus gebe es weitere Ermittlungen, zu denen sich seine Behörde derzeit aber nicht äußern wolle. 

Insgesamt wurden in Deutschland im Zusammenhang mit Encrochat rund 3800 Ermittlungsverfahren eingeleitet, nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) gab es bislang 974 Verurteilungen. Dass Deutschland mit diesen Zahlen nicht allein steht, zeigen unter anderem Zahlen aus England. Dort wurden bislang mehr als 1200 Kriminelle verurteilt, ein Drittel davon allein in London. In Englands Hauptstadt addieren sich die verhängten Haftstrafen inzwischen auf mehr als 3700 Jahre, wie Scotland Yard Anfang Oktober mitteilte. Europaweit gab es laut Europol bis Mitte dieses Jahres insgesamt 6500 Festnahmen. 

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Die fast 1000 in Deutschland verhängten Urteile sind nach wie vor umstritten. Die von der französischen Polizei gehackten Daten hätten vor deutschen Gerichten nicht verwertet werden dürfen, argumentieren die Verteidiger der Angeklagten. Denn sie seien auf eine in Deutschland rechtswidrige Art und Weise erlangt worden. Die französische Polizei habe ohne konkreten Verdacht, quasi wahllos ins Blaue hinein, Tausende von Telefonen angezapft. Kein Richter in Deutschland hätte diese Massenüberwachung genehmigt. Hier würden Grundrechte der Beschuldigten ausgehebelt. Was der Bundesgerichtshof anders sieht. Er hält die Urteile für rechtens. Wenn sie wie im vorliegenden Fall der Aufklärung schwerer Straftaten dienen, seien die aus Frankreich übermittelten Daten als Beweismittel verwertbar.

Doch damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Beim Bundesverfassungsgericht liegen diverse Beschwerden vor, über die noch nicht entschieden wurde, erläutert Rechtsanwalt Temba Hoch auf Anfrage des WESER-KURIER. Hoch ist Vorstandsmitglied des Bremischen Anwaltsvereins und selbst Verteidiger in mehreren Encrochat-Prozessen. Auch er betreibt derzeit ein umfangreiches Verfassungsbeschwerdeverfahren. Zudem, so Hoch, gibt es eine Vorlage der 25. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die Kammer hat zu den Bedenken über die Verwertbarkeit der Daten 14 Fragen an den EuGH formuliert. 

Wiederaufnahmeverfahren?

Die mündliche Anhörung in dieser Angelegenheit beim EuGH fand Anfang Juli dieses Jahres statt. Die Tragweite der Entscheidung zur Erlangung und Weitergabe der Encrochat-Daten zeigt ein Blick auf die Liste der Länder, die sich dabei zu Wort meldeten: Vertreten waren neben Deutschland auch Tschechien, Irland, Spanien, Frankreich, Niederlande, Ungarn und Schweden. Die Schlussanträge der Generalanwältin sind auf den 26. Oktober terminiert. 

Welche Folgen es hätte, sollte der Europäischen Gerichtshof im Sinne der Verteidiger entscheiden, sei derzeit unübersehbar, sagt Anwalt Temba Hoch. Denkbar sei, dass dadurch laufende Verfahren in sich zusammenfielen, Haftbefehle aufgehoben werden müssten und es zu Wiederaufnahmeverfahren käme. Frank Passade ist seitens der Staatsanwaltschaft in dieser Hinsicht zumindest für die bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren eher skeptisch. Dass ein solches Urteil eventuell für künftige Fälle richtungsweisend sein könnte, räumt er aber auch ein.

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