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Familienökonom im Interview Warum Kinder aus benachteiligten Familien oft später in die Kita gehen

Gerade die Kinder, die es am nötigsten hätten, gehen oft nicht oder erst spät in die Kita. Das sagt der Familienökonom Mathias Huebener, der an diesem Donnerstag beim Bremer Kita-Gipfel spricht.
16.02.2023, 05:00 Uhr
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Warum Kinder aus benachteiligten Familien oft später in die Kita gehen
Von Sara Sundermann

Herr Huebener, Sie haben zu Hürden für den Kita-Besuch geforscht und sprechen an diesem Donnerstag beim Bremer Kita-Gipfel. Gehen eigentlich Kinder aus allen Schichten und unabhängig von der Herkunft ihrer Eltern gleichermaßen in die Kita?

Mathias Huebener: Wir haben in den vergangenen zehn Jahren einen großen Ausbau der Betreuungskapazitäten gesehen, begleitet durch die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz ab dem ersten Geburtstag im Jahr 2013. Dadurch gehen jetzt mehr Kinder aus allen Gesellschaftsgruppen in die Kita. Aber dennoch sieht man nach wie vor deutliche Unterschiede. Kinder von gut gebildeten Eltern mit höherem Einkommen und ohne Migrationshintergrund gehen häufiger schon früh in die Kita. Kinder, deren Eltern einen niedrigeren Bildungsabschluss haben, gehen seltener vor ihrem dritten Geburtstag in die Kita. Dasselbe gilt für Kinder aus armutsgefährdeten Familien und aus Familien mit Migrationshintergrund.

Wollen die Eltern in diesen Familien nicht, dass ihre Kinder früh in die Kita gehen?

Durch einen geringeren Wunsch nach Betreuung lassen sich die Unterschiede nur zum Teil erklären, aber keineswegs in Gänze. Wenn wir zum Beispiel auf Familien schauen, in denen kein Deutsch gesprochen wird, sehen wir beim Betreuungswunsch überhaupt keinen Unterschied zu anderen Familien. Teilweise sind die Betreuungswünsche bei diesen Eltern sogar noch etwas höher. Aber wenn es dann darum geht, ob die Kinder später auch in die Kita gehen, zeigen sich drastische Unterschiede. Die privilegierteren Familien sind erfolgreicher dabei, ihren Wunsch nach einem Betreuungsplatz umzusetzen.

Wie äußern sich diese Unterschiede konkret?

Man kann sagen, dass insgesamt jede zweite Familie mit einem Kind unter drei den Wunsch nach einem Betreuungsplatz hat. Aber von den Familien ohne Deutschkenntnisse, die einen Platz wollen, bekommt nur die Hälfte tatsächlich einen Platz. In der Gruppe der deutschsprachigen Familien bekommen vier von fünf Kindern, deren Eltern eine Betreuung wollen, auch einen Platz. Das sind eklatante Unterschiede. Vor allem, wenn man davon ausgeht, dass der geäußerte Wunsch nach Betreuung der gleiche ist. Wir reden hier vor allem über den Krippenbereich. Bei den Über-Dreijährigen nehmen die Unterschiede ab, und mehr Kinder aus allen Gesellschaftsgruppen gehen in die Kita.

 

Von den Familien ohne Deutschkenntnisse, die einen Platz wollen, bekommt nur die Hälfte einen Platz.
Familienökonom Mathias Huebener
 

Woran liegt das, dass die Unterschiede bei den Kleineren am stärksten sind?

Die Plätze für die Unter-Dreijährigen sind noch am stärksten rationiert, weil es hier vergleichsweise wenig Plätze gibt. Krippenplätze wurden zwar auch ausgebaut, aber das Angebot ist deutlich kleiner als gebraucht. Für die Über-Dreijährigen gibt es bundesweit kleinere Lücken. Wir müssen uns aber gerade über den frühkindlichen Bereich große Gedanken machen, weil das natürlich die Zeit ist, in der Sprachkenntnisse angelegt werden. Das Tragische ist, dass die Kinder am seltensten in die Kita gehen, die von einer guten Betreuung am meisten profitieren könnten.

Weshalb gehen diese Kinder selten in eine Krippe?

Eine wichtige Zugangshürde sehen wir in dem Prozess, wie man zu einem Kitaplatz kommt. Für die Bewerbung gibt es keine einheitlichen Standards, das variiert je nach Kommune und Träger. Die Bewerbungsverfahren für einen Kitaplatz sind oft extrem aufwendig. Gleichzeitig gibt es in vielen Familien große Informationsdefizite. Wir wissen, dass Familien mit Migrationshintergrund oft viel weniger darüber wissen, wie man an einen Kitaplatz kommt und dass eine einzige Bewerbung vermutlich nicht ausreicht, um erfolgreich zu sein. Hinzu kommen oft Sprachbarrieren. Erforderlich sind viel systematischere Informationen über die Kita-Platzvergabe, eine Handreichung für Eltern.

Müssen Eltern also einfach nur besser informiert werden?

Informieren ist nur ein Aspekt. Neuere Studien zeigen, dass es auch Hinweise auf Diskriminierung bei der Platz-Vergabe seitens der Kitas gibt. Kinder mit Migrationshintergrund bekommen offenbar seltener einen Platz. Wenn Kitas mitbestimmen können, wie sich ihre Gruppen zusammensetzen, werden sie zum Beispiel auf ein ausgewogenes Verhältnis von Mädchen und Jungen achten. Aber Kitas wissen auch, dass das Eltern-Engagement in bestimmten Gesellschaftsgruppen stärker ausgeprägt ist und dass engagierte Eltern die Elternarbeit vereinfachen. In der Praxis ist schwer überprüfbar, ob wirklich die Kriterien für die Platz-Vergabe angewandt werden. Wenn die Nachfrage so groß ist, und es eine Flut von Anmeldewünschen gibt, ist es schwer, Gerechtigkeit herzustellen. Dann dominieren manche Anfragen.

Das Gespräch führte Sara Sundermann.

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Zur Person

Mathias Huebener (35)

ist Familien- und Bildungsökonom und arbeitet als Leiter der Forschungsgruppe Bildung und Humanvermögen am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Berlin. Er beschäftigt sich mit Familienpolitik und mit dem Kita-Ausbau insbesondere für Kinder unter drei. Huebener hat zur Teilhabe von Kindern in Kitas und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie geforscht.

Zur Sache

Bremer Kita-Gipfel

An diesem Donnerstag und Freitag findet ein Bremer Kita-Gipfel statt. Organisiert wird der Gipfel vom Bildungsressort gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Ziel der Veranstaltung an der Universität Bremen ist es, Wege aufzuzeigen, wie die Kindertagesbetreuung und frühkindliche Bildung in Bremen qualitativ hochwertig und gerecht organisiert werden kann. Anspruch des Gipfels ist es laut Behörde und DGB,  Probleme und Perspektiven zu beleuchten, die beim Betrieb, Ausbau und bei der Weiterentwicklung von Kitas auftreten. Dabei sollen auch verbindliche Wege verabredet werden, was in welchen Schritten getan werden kann.

Der Gipfel ist in Form von Workshops organisiert. Dabei kommen sowohl Bremer Fachleute aus Theorie und Praxis als auch externe Gäste zu Wort. Als auswärtige Experten sind unter anderem ein Vertreter der Berliner Verwaltung geladen, der davon erzählt, wie man in der Hauptstadt versucht, den Kita-Ausbau zu beschleunigen. Auch ein Kinderarzt und ein Ortsamtsleiter geben Praxis-Input für die Debatten. Am Kita-Gipfel nehmen sowohl Politikerinnen als auch Verwaltungsvertreter teil, Kita-Träger ebenso wie Erzieherinnen, Gewerkschafter und Wissenschaftlerinnen.

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