Herr Claassen, in Deutschland fehlt zurzeit ein wichtiges Medikament zur Vorbeugung und Behandlung von HIV. In Apotheken ist es kaum noch verfügbar. Was bedeutet das für die Betroffenen?
Niels Claassen: Ich bin einer dieser Betroffenen. Ich habe HIV und bin auf das Medikament angewiesen.
Was bewirkt das Medikament?
Es sorgt dafür, dass die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesenkt wird. Das heißt: Das HI-Virus ist nicht mehr übertragbar, und die Krankheit kann nicht ausbrechen. HIV-Patienten mit gut funktionierender Therapie können sich damit genauso verhalten wie ganz gesunde Menschen. Voraussetzung ist aber, dass die Medikamente regelmäßig eingenommen werden – die Therapie darf nicht unterbrochen werden. Ich nutze das Medikament seit 2006 in Kombination mit einem anderen. Als ich von dem Engpass erfahren habe, habe ich mir vorsorglich sofort ein Rezept ausstellen lassen und bin zur Apotheke gegangen.
Mit welchem Ergebnis?
In mehreren Apotheken hieß es: "Nicht mehr lieferbar." Ich bekam die Auskunft, dass es auch bei Schnupfenmitteln Engpässe gebe. Und ich bekam den Rat, ich könne ja die Tabletten umstellen. So einfach ist das allerdings nicht, das ist kein anderes Antibiotikum oder Schnupfenmittel, das ist kein Aspirin. Es handelt sich um eine Kombination von Medikamenten, die in meinem Fall zum Glück sehr gut und schon sehr lange wirkt. In dem Moment steht man alleine da und hat Angst.
Was ist die Schwierigkeit, wenn auf andere Medikamente umgestellt werden muss?
In aller Regel bedeutet das schwerste Nebenwirkungen – und auch nicht die Gewissheit, dass eine neue Kombination wirkt. Ich könnte auch nicht einfach wieder zu meiner alten Kombination zurückkehren, sollte das Medikament wieder verfügbar sein. Das ist ausgeschlossen. Zu Hause habe ich dann durchgezählt, dass meine Tabletten noch bis Mai reichen. Das war vor wenigen Tagen. Bei der weiteren Suche hatte ich schließlich Glück: Eine HIV-Schwerpunktärztin in Hannover konnte mir eine Apotheke nennen, die das Medikament noch dahatte. Damit habe ich in meinem Fall zunächst eine akute Lösung. Viele andere haben dieses Glück nicht. Und für eine bestimmte Gruppe ist das eine besonders katastrophale Situation.
Welche Gruppe von HIV-Betroffenen meinen Sie?
Es gibt Patienten, für die ist es das einzige Medikament, das noch wirksam ist. Wenn sie das Medikament nicht mehr bekommen, wird es unweigerlich bei ihnen zu einem Anstieg der Viruslast kommen – und zu einem Rückgang der T-Helferzellen, die eine wichtige Rolle für das Immunsystem spielen.
Mit welchen Folgen?
Dann gibt es wieder Erkrankungen, die wir von früher bei HIV-Betroffenen kennen: Lungenentzündungen etwa und Kaposi-Sarkome; ein bösartiger Tumor, der die Haut, Schleimhäute und innere Organe betrifft. Wir werden dann vielleicht wieder Bilder von Aids-Kranken oder gar Toten sehen, wenn nicht schnell eine Lösung für die Engpässe gefunden wird. Wir reden hier von Menschenleben, die durch diese Situation einem erheblichen Risiko ausgesetzt werden. Das ist skandalös.
Was ist der Skandal aus Ihrer Sicht?
Dass dies heutzutage alles wieder passieren kann. Dass wir durch ein fehlendes Medikament, was es eigentlich gibt, aber in Deutschland nicht lieferbar ist, vor einer Situation wie früher stehen. Das macht mich ratlos und auch wütend. Funktionierende Therapie müssen unterbrochen werden, das ist völlig absurd. Niemand hat sich HIV ausgesucht, es ist einfach passiert. Alle haben seitdem schon einen mitunter langen und schweren Weg hinter sich: die Angst vor dem Virus selbst, die Angst vor Ausgrenzung, die Angst, dass man für den Rest des Lebens alleine ist, dass man den Partner gefährden könnte. Dazu Fragen wie: Wie lange funktioniert die Medikamenten-Kombination noch? Wem sage ich, dass ich HIV habe? Wie offen kann ich sein?
Sie engagieren sich ehrenamtlich als HIV-Buddy. Das heißt, Sie sind Ansprechpartner für HIV-Neuinfizierte. Was bedeutet das gerade auch in der aktuellen Situation?
Alle sind in der Regel voll mit Fragen und Ängsten. Da ist schlichtweg zu erwarten, dass die Basis – nämlich die Bereitstellung der Medikamente – wenigstens funktioniert. Damit sie sich über die Therapie keine Sorgen machen müssen und mit der Viruslast möglichst schnell unter die Nachweisgrenze kommen. Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass die Wirkstoffkombination Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil bis heute nicht auf einer Liste mit Medikamenten steht, die vorgehalten werden müssen und im Notfall aus dem Ausland importiert werden können.
Das Medikament ist als einziges in Deutschland zum Schutz vor HIV zugelassen. Es wird regelmäßig eingenommen und schützt laut Studien so wirksam wie Kondome. Was bedeutet es, wenn es weiter knapp ist?
Wir müssen mit einem Anstieg der HIV-Neuinfektionen rechnen. Für diese Präexpositionsprophylaxe, kurz Prep, wird das Medikament derzeit nur noch reduziert abgegeben – um Therapien nicht zu gefährden. Natürlich kann man sich mit Kondomen schützen, aber ob alle ihr Verhalten ändern, wissen wir nicht. Die Situation wird außerdem wieder zu einer großen Verunsicherung führen, unter den Betroffenen ohnehin, aber auch im Allgemeinen zum Thema HIV.
Was erwarten Sie von der Bremer Politik?
Mir ist das Thema nicht präsent genug, vielen Menschen ist die Tragweite nicht bewusst – und das scheint mir auch in der Politik der Fall zu sein, auch in Bremen. Meine Forderung ist, dass die Bremer Politik für ihre Bürger lauter wird und sich vehement beim Bundesgesundheitsministerium dafür einsetzt, dass endlich gehandelt wird. Dass Importe von wirkstoffgleichen Medikamenten ermöglicht werden und sie auf eine Liste der relevanten Arzneimittel kommen. Die Ursachen für die Lieferengpässe sind komplex: Zum sind Hersteller ausgestiegen, dazu kommen auch Preisunterschiede. In Nachbarländern bekommen Hersteller mehr Geld. Das alles darf bei solchen elementaren Arzneimitteln nicht passieren, egal ob es sich um HIV-, Krebs- oder andere Medikamente handelt.
Das Gespräch führte Sabine Doll.