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Innere Mission Bremen "Ich bin nicht der Anstaltspastor"

Der neue Vorstand der Inneren Mission in Bremen Thomas Röhr über seinen Wechsel von Berlin, die Chancen eines Wohlfahrtverbandes und seinen Wunsch nach neuen Finanzierungsmodellen für soziale Arbeit.
24.10.2023, 05:00 Uhr
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Von Timo Thalmann

Vor gut 100 Tagen haben Sie Ihre Aufgabe als Chef der Inneren Mission in Bremen übernommen. Dafür sind Sie von Berlin an die Weser gezogen. Eine gute Entscheidung?

Thomas Röhr: Bis jetzt muss ich sie nicht bereuen. Im Vergleich zu Berlin ist Bremen übersichtlich und deutlich entspannter. Das gilt offenbar sogar für offizielle Anlässe. Kürzlich gab es den Besuch der neuen Sozialsenatorin in einer unserer Einrichtungen. Da bin ich natürlich sofort in den Hauptstadtmodus gefallen: Was muss vorbereitet werden? Wie sehen die Sicherheitsanforderungen aus? Was muss abgesperrt werden? Welchen Vorlauf braucht die Polizei? Ich wurde ich dann von erfahrenen Mitarbeitenden beruhigt, das sei keine so große Sache. Eine angenehme Erfahrung.

Es heißt ja, neue Besen kehren gut. Wo sehen Sie Veränderungsbedarf bei der Inneren Mission? Haben Sie da schon Akzente setzen können?

Zunächst einmal habe ich hier eine funktionierende Organisation vorgefunden, mit unglaublich engagierten und kompetenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Ich weiß, dass unser Name aus dem 19. Jahrhundert stammt und einen etwas konservativen Klang hat. Ich bin hier aber nicht der neue Anstaltspastor. Die Realität der Sozialarbeit ist heute eine andere als bei der Gründung vor fast 175 Jahren. Damals dominierten in der Wohlfahrt paternalistische Konzepte. Die Armen waren einfach eher Objekte der Fürsorge. Heute geht es um die Selbstbestimmung der Klientel, um die wir uns bemühen. Das ist anstrengend für beide Seiten und am Ende auch für die Gesellschaft, weil es eben nicht allein darum geht, beispielsweise die obdachlosen Menschen schnell von der Straße zu bekommen und unsichtbar zu machen. Es geht um die Möglichkeit des Individuums, sein oder ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Sie agieren als Wohlfahrtsverband, ihre Leistungen werden aber zu weiten Teilen von der öffentlichen Hand finanziert. Für Wohnungslose in einer Unterkunft, für jeden Flüchtling bekommen sie entsprechende Kostensätze. Auch Ihre zahlreichen Beratungsstellen leben von Fördermitteln des Staates. Ist Wohlfahrt noch mehr als das traditionelle Etikett eines Dienstleisters?

Zur Sozialarbeit gehört für mich auch immer der Hinweis auf die politischen Rahmenbedingungen. Denn die Lebensverhältnisse eines Menschen beruhen nicht allein auf seinen individuellen Entscheidungen. Da hilft es, in einem größeren Wohlfahrtsverband agieren zu können, wobei ich mir wünschte, die Diakonie, zu der wir gehören, wäre an dieser Stelle manchmal deutlicher und lauter. Zugleich können wir als Wohlfahrtsverband mit einem klaren und in unserem Fall christlichen Wertesystem über den jeweils aktuellen Bedarf und die Tagespolitik hinausdenken. Wir sind geistig und geistlich unabhängig. Das ist auch eine Kraftquelle.

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Ich hätte jetzt darauf getippt, dass Sie auf die Möglichkeit eines Wohlfahrtsverbandes verweisen, ehrenamtliches Engagement sowie Spenden abrufen zu können.

Vor allem unsere Hospize leben zu einem gewissen Anteil von freiwilligen Zuwendungen. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Fundraiser kann ich Ihnen sagen, alles, was über Kinder, Tiere und Katastrophen hinausgeht, sind schwierig zu vermittelnde Themen fürs Spendensammeln. Die Innere Mission in Bremen bemüht sich nun hauptsächlich um gesamtgesellschaftlich eher unbeliebte Randgruppen: Wohnungslose mit ihren vielfältigen Problemlagen inklusive wachsenden Drogenkonsums, unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Dass es hier den Staat und öffentliche Körperschaften als Kostenträger gibt, mit denen wir über die Refinanzierung verhandeln können, ist eine gute Sache. Noch besser wäre es, man könnte dabei das System der Entgeltsätze langsam hinter sich lassen.

Sie meinen den Umstand, dass sie am Ende vor allem Tagessätze pro betreutem Klienten abrechnen?

Ganz genau. So werden die meisten Kosten umgelegt, ob sie nun tatsächlich mit der Zahl der zu Betreuenden steigen oder im Grunde unabhängig davon anfallen. Wir müssen trotzdem das Personal, Räume oder Infrastruktur vorhalten, wissen aber nicht im Voraus, wie viele Menschen wir in unseren Notaufnahmeeinrichtungen, zum Beispiel in der Wohnungslosen- oder Kinder- und Jugendhilfe, aufnehmen werden. Ich plädiere deshalb stark dafür, vermehrt mit flexibleren Finanzierungsmodellen zu arbeiten, die anerkennen, dass wir hier für die Gesamtgesellschaft wichtige soziale Infrastrukturen aufrechterhalten. Ich sehe zugleich, dass es bei den Kostenträgern Bewegung gibt, diese Sicht der Dinge stärker zu berücksichtigen. Ich bin also hoffnungsvoll, was diesen Aspekt betrifft.

 

Zur Person

Thomas Röhr (57)

ist promovierter Theologe und seit 1. Juli Vorstand der Inneren Mission in Bremen. Zuvor war er als Fundraiser tätig, unter anderem beim Roten Kreuz und der Johanniter-Unfall-Hilfe. Seine berufliche Laufbahn begann er im Diakonischen Werk.

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