Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

WG statt Wohnheim Wie Bremer mit geistiger Beeinträchtigung wohnen

Der Wunsch selbstständig zu leben, ist bei vielen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung groß - doch Wohnraum ist Mangelware. In einer WG der Inneren Mission kommen sie diesem Ziel ein Stückchen näher.
02.11.2022, 20:17 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Wie Bremer mit geistiger Beeinträchtigung wohnen
Von Kristin Hermann

Rolf Köster ist für die Frühlingszwiebeln zuständig. Damit sie später in die Auflaufform passen, schneidet der 60-Jährige die Stangen in feine Ringe. Schräg neben ihm sitzt Andrea Hecht, sie würfelt gerade die Paprika. Zu Beginn zeigt ihnen Heilerziehungspfleger Simon Rumpel, wie sie das Gemüse am besten verarbeiten, dann sollen die beiden möglichst viel allein machen. Es ist Feierabendzeit in der Wohngemeinschaft der Inneren Mission. In der Küche kommen nach und nach mehr Bewohner von ihrer Arbeit nach Hause oder verlassen ihr Zimmer, weil sie Hunger bekommen. Manche helfen bei der Essenszubereitung, andere bleiben lieber für sich. „Hier wird keiner gezwungen“, sagt Rumpel.

In dem Altbau in Schwachhausen leben derzeit sechs Männer mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung zusammen. Ihre Hintergründe sind unterschiedlich, einige wollen von ihrem Elternhaus unabhängig werden, andere kommen aus der Wohnungslosenhilfe oder der Psychiatrie. Sie arbeiten häufig auf dem zweiten Arbeitsmarkt und erhalten finanzielle Unterstützungsleistungen vom Staat. Auch ihre Diagnosen sind breit gefächert, doch sie alle eint der Wunsch nach möglichst viel Selbstständigkeit.

Bei der Inneren Mission finden Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung verschiedene Wohnangebote: Je nach Hilfebedarf gibt es etwa Plätze in einem Wohnheim, aber auch die Begleitung in der eigenen Wohnung ist möglich. In der Schwachhauser Wohngemeinschaft begleiten Rumpel und seine Kollegen die Bewohner ambulant. Zeitweise müssen sie auch ohne Betreuung zurechtkommen – etwa in der Nacht.

Unterstützung im Alltag

Über mehrere Stockwerke verteilen sich die Zimmer der Bewohner, die Bäder nutzen meist zwei Parteien. Unten im Erdgeschoss gibt es die Gemeinschaftsküche und das Wohnzimmer, von dem eine Terrasse und der Garten abgehen. Rolf Köster lebt bereits seit 2014 in der WG, tagsüber geht er einer Arbeit in der Werkstatt Bremen nach. Rumpel und seine Kollegen versuchen den Bewohnern, so gut es geht, die Anforderungen näher zu bringen, die ein eigenständiges Leben mit sich bringt: Dazu gehören neben dem Kochen auch der eigene Haushalt oder die Finanzplanung. Außerdem bieten sie regelmäßig Freizeitbeschäftigung an.

Wenn die Mitarbeiter über die Bewohner sprechen, nennen sie sie „Klienten“ oder „Nutzer“. Jeder von ihnen werde zudem gesiezt. „Auch, wenn wir für einige Familienersatz sind, ist es wichtig, nicht die Distanz zu verlieren“, sagt Rumpel.

Einmal in der Woche kommt eine Reinigungskraft und säubert die Böden, für den Rest des Gemeinschaftsbereiches sind die Bewohner selbst zuständig. Doch wie in anderen WGs auch, klappt es in Schwachhausen nur bedingt mit der Sauberkeit. Eine dicke Staubschicht liegt auf den Technikgeräten im Wohnzimmer, in der Küche klebt es in den Ecken. "Das ist leider immer wieder ein Problem, weil die einige unserer Klienten sich nicht für den Gemeinschaftsbereich verantwortlich fühlen", sagt Rumpel. Auch das ein oder andere Möbelstück wurde bereits in Mitleidenschaft gezogen, der Verein habe jedoch nur begrenzten Etat, um diese auszutauschen, heißt es auf Nachfrage.

Für einige Interessenten sei das ein Ausschlusskriterium. Zwei Zimmer sind derzeit frei. "Hinzu kommt, dass es eine reine Männer-WG ist und sie nicht barrierefrei ist", sagt Rumpel.

Wohnraum begrenzt

Eine kleine Oase der Wohngemeinschaft ist hingegen der Garten. Hohe Bäume, viel Grün, Ruhe. Wenn das Wetter gut ist, verbringen die Bewohner dort gerne ihre Freizeit. Sie toben mit Simon Rumpels Hund Samy oder grillen zusammen. Rolf Köster zeigt stolz auf die dunklen Terrassenmöbel: "Die habe ich selbst für uns alle gekauft", sagt er. Andrea Hecht ist an diesem Tag zu Besuch dort, sie wohnt eigentlich allein in Oberneuland und wird dort von Simon Rumpel und seinen Kollegen regelmäßig aufgesucht. Ihr gefällt es in Schwachhausen so gut, dass sie sich vorstellen könnte, selbst einzuziehen. "Es ist lustiger als alleine zu Hause", sagt die 40-Jährige.

Lesen Sie auch

Viele der WG-Mitglieder wünschen sich hingegen eine eigene Wohnung. Rolf Köster versucht es bereits seit Jahren. Einer seiner Mitbewohner, ein 24-Jähriger, wird seit Monaten immer wieder abgewiesen, erzählt er. „Der Mangel an Sozialwohnungen ist enorm“, sagt Birte Kröger, Leiterin für das ambulant betreute Wohnen bei der Inneren Mission. „Menschen mit Beeinträchtigung trifft das besonders. Wenn Vermieter hören, dass sie in den Werkstätten tätig sind oder einen Rechtsbeistand habe, werden sie oftmals schnell aussortiert“, unterstreicht ihr Kollege Rumpel. Er wünsche sich, dass die Stadt mehr in geförderten Wohnraum investiere. „Zwar gibt es schon Projekte, aber letztlich ist der Bedarf viel höher.“

Zur Sache

Inklusive Wohnprojekte

In Bremen gibt es diverse Wohnprojekte für Menschen mit Handicap. Viele Träger bieten Wohngemeinschaften wie die der Inneren Mission an, außerdem gibt es inzwischen auch inklusive Wohngemeinschaften, in denen in denen Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und Menschen ohne Behinderung zusammenleben - zu den bekanntesten zählt die WG des Vereins "Inklusive WG Bremen" im Blauhaus in der Überseestadt. Die Menschen ohne Beeinträchtigungen leben mietfrei in der WG – im Gegenzug helfen sie den anderen Mitbewohnern im Alltag. Fachkräfte unterstützen das Zusammenleben. Die nächste inklusive Wohngemeinschaft soll am Hilde-Adolf-Platz entstehen, beim Gewoba-Neubauprojekt im Kaffee-Quartier. Aber auch soziale Träger wie der Martinsclub bieten inzwischen solche Wohnformen an.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)