Keine Frage, die Beteiligung an den Demonstrationen verdient Beachtung und Respekt. Bundesweit soll am Wochenende, vermuten Veranstalter, weit mehr als eine Million Menschen unterwegs gewesen sein, um sich für Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie zu verwenden. Das ist wohl beispiellos. In Bremen reichte der Domshof nicht, um Bürgerinnen und Bürger aus Bremen und der Region zu fassen. Eine größere Demonstration hat der Stadtstaat vermutlich noch nicht gesehen. Hinzuzuzählen sind weitere Zehntausende, die im Geiste teilgenommen haben.
Das ist eine unüberhörbare Aussage, ein weithin sichtbares Signal – zum einen an die Menschen, die es wagen, ernsthaft über "Remigration" nachzudenken und zu reden. Zum anderen an Mitbürger mit Migrationshintergrund, die sich in diesem Land sicher fühlen können müssen. Es ist vielleicht auch ein Zeichen an die Welt, dass Deutschland nicht hinnimmt, wenn sein Ruf als weltoffene und tolerante Nation durch eine Minderheit beschädigt wird. Die "Süddeutsche Zeitung" stellt indes fest, dass es "neben der Absicht, für die Demokratie einzustehen, kein eindeutiges Ziel und auch keinen klaren Adressaten der Proteste" gibt.
Insofern dienen die Demonstrationen zumindest auch der Selbstvergewisserung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren schon vor dem Geheimtreffen in Potsdam über jeden Verdacht erhaben, mit Ausländerfeinden oder Rechtsextremen zu sympathisieren oder je auch nur ansatzweise erwogen zu haben, AfD zu wählen. "Auf nichts kann man sich in der linken und linksliberalen Öffentlichkeit so schnell einigen wie auf den ,Kampf gegen rechts' (für dessen Anhänger ,rechts' und ,rechtsradikal' ein und dasselbe zu sein scheint). Dieser Kampf ist in seinen Formulierungen, Forderungen und vor allem in seinen Ritualen längst erstarrt. Seine Rhetorik wendet sich nicht nach außen, sondern nach innen: Man bestätigt sich seine gute Gesinnung. Man wirkt nicht in die Gesellschaft hinein, man ist mit sich selbst zufrieden", kommentiert Thomas Schmid in der "Welt".
Doch das ist die Herkulesaufgabe: das Wirken in die Gesellschaft hinein. Wie kann man diejenigen erreichen, die drauf und dran sind, die AfD in Sachsen und Thüringen zur stärksten Kraft zu machen? Indem man sie verunglimpft? Was haben Politikerinnen und Politiker als Antwort zu bieten, außer dem Ruf nach einem AfD-Verbot – wohlwissend, dass man Parteien womöglich verbieten kann (was in einem demokratischen Rechtsstaat schon nicht ohne ist), nicht aber Gesinnungen?
"Und was soll nach einem AfD-Verbot eigentlich aus den Millionen AfD-Wählern werden?", fragt Harald Martenstein, ebenfalls in der "Welt". "Glaubt irgendwer, dass die zerknirscht zu SPD und CDU zurückkehren? Nach Ruanda ausweisen kann man sie jedenfalls nicht. Das realistischste Szenario scheint mir deren Radikalisierung zu sein. Dass die anderen Parteien auf Leute wie sie keinen Wert mehr legen, hätten sie ja schriftlich."
Langwieriger, schwieriger, anstrengender und heikler ist es, sich mit den Ursachen des Rechtsrucks zu befassen. Dafür nötig wäre beispielsweise das Eingeständnis, eine große politische Aufgabe ähnlich unterschätzt zu haben wie weiland die Wiedervereinigung. Das Resultat der Fehleinschätzung ist eine weiterhin und weithin unzureichende Integrationspolitik, die nur zögerlich korrigiert wird – obwohl die gesellschaftlichen Verwerfungen wachsen.
Es ist unerträglich, wenn Mitbürger wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder Religion beleidigt oder benachteiligt werden. Aber als Bürger zweiter Klasse kann man sich auch fühlen, wenn man in die Schule gesteckt wird, ohne die Sprache zu beherrschen, wenn im Ausland erworbene berufliche Qualifikationen hierzulande nichts wert sind, wenn man keine Wohnung findet oder sich in Übergangsunterkünften selbst überlassen bleibt, weil es nicht genug Personal gibt.
Können die Demonstrationen ein Anfang sein? Vielleicht, es kommt darauf an, was daraus folgt. Empörung allein wird nicht reichen.