Herr Lukas, warum haben die meisten Städte Probleme mit ihren Bahnhofsvierteln?
Tim Lukas: Das Bahnhofsumfeld bietet für bestimmte Szenen günstige Voraussetzungen. Dort kreuzen sich täglich die Wege von vielen Tausend Menschen. Das schafft Anonymität, vermittelt gleichzeitig aber auch das Gefühl von sozialer Teilhabe. Man gelangt gut an Geld, die Erfolgsquote bei Bettelgeschäften ist vielversprechend. Gleichzeitig halten sich dort oftmals Dealer auf, die den Zugang zu Drogen sicherstellen. Dazu kommen die gute Erreichbarkeit des Hauptbahnhofes und die Zentralisierung sozialer Angebote.
Sie haben in den vergangenen Jahren Forschungsprojekte in mehreren Städten durchgeführt und Umgestaltungsprozesse begleitet, unter anderem in Düsseldorf und Wuppertal. Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?
Den goldenen Weg gibt es nicht. Wichtig ist es, die Interessen aller in den Blick zu nehmen. Wir haben in einem Projekt einen Werkzeugkasten mit etwa 230 Einzelmaßnahmen entwickelt, den wir interessierten Städten online zur Verfügung stellen. Es sind kriminalpräventive Maßnahmen, die in anderen Städten beispielsweise einen Beitrag zur Erhöhung der Aufenthaltsqualität und des Sicherheitsgefühls im öffentlichen Raum geleistet haben.

Tim Lukas arbeitet als Soziologe an der Bergischen Universität Wuppertal und forscht zum Thema urbane Sicherheit.
In Bremen gab es zum Hauptbahnhof bereits Runde Tische, Aktionspläne und viele Sondereinsätze der Polizei. Probleme gibt es dennoch weiterhin. Worauf kommt es an, damit Maßnahmen tatsächlich funktionieren?
Zunächst einmal müssen sie von der Verwaltung auch umgesetzt werden. Ich finde es erschreckend und für die Betroffenen dramatisch, in wie vielen Städten das auf die lange Bank geschoben wird. Entscheidend ist außerdem ein respektvoller Umgang der unterschiedlichen Akteursgruppen. Das Bahnhofsumfeld ist nicht nur ein Ordnungs- und Sicherheitsthema. Auch aufsuchende Sozialarbeit und gesundheitspolitische Maßnahmen spielen dort mit rein, ebenso wie Anrainerinteressen. Es geht darum, miteinander zu kooperieren und im Zweifel auch über den eigenen Schatten zu springen. Ideologische Grabenkämpfe bringen uns nicht weiter und intensivieren nur den Problemdruck.
Viele Menschen machen um den Bahnhofsbereich mittlerweile lieber einen Bogen. Wie schafft man es, dem entgegenzuwirken?
Zentrale Aufgabe sollte es sein, Angebote für alle Menschen zu machen. Das beinhaltet Aufenthaltsflächen für die Straßenszenen, aber auch die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mehrheitsgesellschaft. Im besten Fall gestaltet man den öffentlichen Raum so, dass er von allen sozialen Gruppen genutzt werden kann und keine Gruppe dominant wird. Das ist beispielsweise in Wuppertal gut geglückt. Mit der Umbaumaßnahme am Hauptbahnhof sind viele Grünflächen, Geschäfte und Cafés entstanden, die zum Aufenthalt einladen. Gleichzeitig wurde dort ein Tagestreff für die Drogenszene geschaffen, der etwas abseits der Personenströme, aber dennoch zentral liegt. Damit hat man sich den öffentlichen Raum wieder ein Stück weit angeeignet. Wichtig ist, sich schon vor dem Beginn der Umgestaltung Strategien zu überlegen, wie man mit Verlagerungseffekten während der Bauphase umgeht, sonst sind Beschwerden vorprogrammiert.
Dass die Probleme gänzlich verschwinden, ist doch aber illusorisch, oder?
Bis zu einem gewissen Grad müssen Stadtgesellschaften Begleiterscheinungen des Lebens auf der Straße aushalten. Wenn das jedoch überhandnimmt, muss man sich etwas einfallen lassen. Wenn man dem nur mit repressiven Maßnahmen begegnet, verdrängen wir bloß. Ich halte daher Rückzugsräume und ausgewählte Akzeptanzflächen wie in Bremen vom Ansatz her für richtig. Diese müssen allerdings wohlüberlegt gestaltet und ans Hilfesystem angebunden werden. Es bringt nichts, ein paar Bänke aufzustellen und den Platz und die Leute sich dann selbst zu überlassen. Letztlich brauchen wir einfach auch mehr Wohnraum für die Menschen auf der Straße.
Bremen und andere Städte leiden momentan besonders unter dem gestiegenen Crackkonsum. Verschärft das die Problematik noch einmal?
Crack belastet derzeit auch diejenigen Städte, die ihr Bahnhofsumfeld eigentlich gut im Griff haben. Die Droge stellt viele Dinge auf den Kopf, und es fehlen bisher Antworten, wie man damit umgehen soll. Die Verelendung ist größer und es gibt kein Substitut. Das hat gravierende Folgen für die Betroffenen, aber auch für das Zusammenleben in der Stadt. Um dem zu begegnen, wird man in Zukunft sicherlich auch stärker darauf achten müssen, woher die Erkrankten eigentlich kommen.
Wie meinen Sie das?
Die Städte sollten sich damit befassen, wer täglich in ihrem im Bahnhofsumfeld unterwegs ist. Sind das auch Leute aus dem Umland? Es kann nicht sein, dass nur die Großstädte und Zentren die Last tragen müssen. Auch Nachbarkommunen und Kleinstädte müssen eingebunden werden und Angebote vor Ort schaffen. Außerdem halte ich eine stärkere Dezentralisierung innerhalb der Städte für richtig. Anlaufstellen und Drogenhilfezentren in den Stadtteilen haben sich als hilfreich erwiesen, schließlich leben nicht alle Drogenkranken auf der Straße oder gar am Bahnhof.
Das Interview führte Kristin Hermann.