Als die ersten Raketen auf Kiew flogen, gab es in Deutschland ein böses Erwachen: Die Russlandpolitik vor allem der SPD, deren Ex-Kanzler Gerhard Schröder bis heute im Aufsichtsrat des Erdölkonzerns Rosneft sitzt, war dramatisch gescheitert. Die Hoffnung auf einen seriösen Handelspartner im Osten, auf ein Land, das sich vielleicht doch irgendwann noch der westlichen Wertegemeinschaft annähern würde, zerplatzte über Nacht wie eine Seifenblase. Heute erscheint eine Rückkehr zur Normalität auf Jahrzehnte hinaus eher unwahrscheinlich.
Vielmehr müssen andere Prioritäten gesetzt werden: Natürlich, in erster Linie muss es um die Unterstützung für die Ukraine und die Versorgung der Flüchtlinge gehen. Und wenn der blutige Krieg im Südosten Europas zu Ende sein wird, auch um den Wiederaufbau eines dann vermutlich total zerstörten und am Boden liegenden Landes. Auch deutsche Unternehmen sollten sich beteiligen und in der Ukraine investieren. Denn allein wird das Land es nach diesem Krieg kaum schaffen, wieder auf die Beine zu kommen, geschweige denn die Standards zu erreichen, die für die ersehnte EU-Mitgliedschaft zumindest in der Langfristperspektive nötig sind.
Doch die Ukraine ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das Baltikum: Drei relativ kleine EU- und Nato-Mitgliedstaaten, die auf dem Landweg nur über einen schmalen Korridor zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und der weißrussischen Grenze mit dem Rest Europas verbunden sind. Nicht einmal durchgehende Bahnverbindungen gibt es derzeit dorthin. Auch müssen neue Prioritäten gesetzt werden: Denn die drei baltischen Länder haben sich seit 1990 nicht nur zu vorbildlichen Demokratien und Vorreitern der Digitalisierung entwickelt.
Sie leiden seit der Zurückerlangung ihrer Unabhängigkeit auch unter einer unterschwelligen Bedrohung aus Russland. Sie haben deshalb die Solidarität des übrigen Europa mehr als nur verdient. Und das gilt nicht nur für die Nato-Truppen, die unter maßgeblicher Beteiligung der Bundeswehr schon seit einigen Jahren im litauischen Rukla und an anderen Orten stationiert sind. Es gilt auch für Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur – kurz: alle anderen irgendwie denkbaren Bereiche der Zusammenarbeit.
Es gilt besonders für Norddeutschland. Schließlich haben die alten Hansestädte seit Jahrhunderten Beziehungen in diese Region. Danzig, Riga, Dorpat und Reval waren damals wenigstens genau so wichtige, wenn nicht sogar weit wichtigere Handelspartner als das russische Nowgorod. Und auch heute täte man wohl gut daran, sich in den nächsten Jahren etwas stärker der gemeinsamen Geschichte mit Gdansk, Riga, Tartu und Tallinn zu erinnern.
Bremer Städtepartnerschaft mit Riga
Sicher: Bremen hat schon seit 1985 eine Städtepartnerschaft mit Riga, und es gibt einen lebendigen Austausch zwischen Schulen, Kirchengemeinden und sogar den Polizeien beider Städte. Aber auch das ist ausbaufähig. Denn heute geht es nicht nur um Chorkonzerte, sportliche Aktivitäten und gegenseitige Besuche von Schülergruppen oder Vereinen. Es sollte und muss auch um die Wirtschaft gehen, um Wissenschaft und Forschung. Zudem: Das moderne und dynamische Baltikum kann für manche verkrusteten Strukturen in Deutschland durchaus befruchtend wirken.
Es mutet deswegen schon lange merkwürdig an, dass Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Rostock zwar regelmäßig zu Russland-Tagen einlud. Von deutsch-baltischen Wirtschaftstagen ist allerdings bislang nicht viel zu sehen. Wieso eigentlich nicht? Wieso gibt es das nicht schon, zum Beispiel in Bremen?
Die Fehler, die Deutschland jahrzehntelang in seiner Russlandpolitik gemacht hat, lassen sich auf diese Weise gewiss nicht korrigieren. Aber ein verstärktes Engagement im Baltikum wäre zumindest ein Signal dafür, dass Europa zusammensteht, dass man die Lage an der Ostgrenze der EU im Blick hat und dass jahrhundertealte, historisch gewachsene Verbindungen auch heute noch tragfähig sind und funktionieren können.