„Ich weiß nie, wie viel da auf mich zukommt“, sagt Anneliese Lobe-Manga, während sie in ihrem kleinen Reihenhaus im Viertel diverse Kisten und Taschen auf ihren Einsatz vorbereitet. Denn gleich wird sie mit Bollerwagen und Hackenporsche zu einem Supermarkt in der Nachbarschaft aufbrechen, um dort Lebensmittel mitzunehmen, die vom Geschäft zwar aussortiert wurden, doch noch genießbar sind.
„Lebensmittelretterin“ nennt sich die 70-Jährige, und diese regelmäßigen Rettungstaten vollbringt sie nicht nur aus profanem Eigennutz, sondern auch für diverse andere Menschen: „Das sind mehrere Familien und auch Einzelpersonen, die jede Woche zu mir kommen“, erzählt sie – Menschen mit geringer Rente, Alleinerziehende, eine ehemalige Selbstständige, die nun neu anfängt, eine Kindergärtnerin, die mit ihrer Kindergruppe aus den Lebensmitteln etwas kocht und auch zwei Familien mit jeweils vier Kindern – ein breites Spektrum also an Personen, die wenig haben oder nicht möchten, dass noch essbare Dinge auf den Müll wandern.
15 Stunden pro Woche im Einsatz
Insgesamt sind es acht Betriebe, die Anneliese Lobe-Manga im Verlauf der Woche ansteuert, um Lebensmittel zu retten. Um die 15 Stunden beschäftigt sie sich damit pro Woche, doch heute ist es der Supermarkt gleich um die Ecke. Manchmal müsse sie mehrmals laufen, um alle Lebensmittel nach Hause zu bringen, doch an diesem Tag ist es lediglich ein gut gefüllter Rollwagen, der diverse Kisten mit Obst und Gemüse beinhaltet. Und dann muss auch noch per Hand aussortiert werden: Was ist noch genießbar, was nicht? Nicht mehr verwertbare Lebensmittel wandern umgehend in die bereitgestellte Mülltonne. „Ich nehme nur das mit, was ich auch essen würde“, sagt sie, während sie eine matschige Birne in die grüne Tonne wirft, anschließend entfernt sie von einigen Möhren die Blätter: „Die Leute lassen sie mir sonst vor der Tür liegen“ erzählt sie, denn auch das beinhaltet die Lebensmittelrettung: In Kisten ausgelegt, warten Obst und Gemüse vor der Tür des Hauses von Anneliese Lobe-Manga darauf, von bedürftigen Menschen mitgenommen zu werden.
Nicht nur das Liegenlassen nicht erwünschter Blätter beobachtet sie regelmäßig: „Am Ende des Monats nehmen die Leute mehr mit als am Anfang, was die Qualität angeht.“ Doch manches ist eben nicht mehr essbar – „gut, dass ich beim Aussortieren immer alte Sachen anhabe, danach sehe ich immer aus wie ein Schwein“, sagt sie und lacht.
Mehrere große, blaue Taschen eines schwedischen Möbelhauses stehen anschließend im großen Bollerwagen, der Hackenporsche ist gut gefüllt. Anneliese Lobe-Manga macht sich auf den Weg nach Hause: Obst, Gemüse, geräucherter Fisch, „eine Rentnerin, die regelmäßig kommt, isst gerne Fisch“, sagt Anneliese Lobe-Manga. „Essensverteilung mache ich seit dem Sommer 2020“, erzählt die ehemalige Erzieherin, „ich mag mich gerne engagieren und ich weiß, dass viele Menschen wenig Geld zur Verfügung haben.“ Sie habe am Anfang ihrer Rentenzeit überlegt, was sie tun könne, „ich wollte irgendwas Soziales machen, etwas, das Sinn macht.“ In einer Straße in der Nachbarschaft habe sie dann mal Lebensmittel gesehen, die vor der Tür eines Hauses standen: „Da habe ich dann einfach mal geklingelt und gefragt, ob ich mitmachen kann.“
So habe sie erfahren, dass auch in anderen Straßen im Viertel Lebensmittel verteilt werden – „und dann bin ich in die Gruppe gekommen“. Drei von engagierten Menschen betriebene Lebensmittelrettungsgruppen im Viertel gebe es, sagt sie, „und unsere Gruppe heißt zum Beispiel ,Lebensmittel retten‘“. Außerdem sei sie noch Mitglied bei „Foodsharing“, einer mittlerweile in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien tätigen Initiative gegen Lebensmittelverschwendung: „Dafür gehe ich auch zu verschiedenen Stationen im Viertel. Es gibt so unglaublich viele Menschen, die Lebensmittel retten“, sagt sie, „aus Gründen der Verschwendung, aber auch, weil sie schlicht und einfach kein Geld haben.“ Das Soziale, betont sie erneut, „das Soziale ist mein Ding“, wobei sie auch meint: „Natürlich freue ich mich auch selber, ich bekomme eine geringe Rente“, es sei somit eine Kombination aus einer geringen Rente, dem Wunsch, sich engagieren zu wollen und dem Knüpfen sozialer Kontakte: „Schon alleine, wie viele Menschen ich dadurch kennengelernt habe!“, freut sie sich. Insgesamt sei es ein Geben und Nehmen: „Da gab es zum Beispiel einen Mann, dem ich einen Kürbis gegeben habe, und er mir dann ein Kürbisbrot gebacken hat.“
"Ein schönes Gefühl"
Theoretisch könne sie auch zum Amt gehen, erzählt sie, ihr würde zum Beispiel Wohngeld zustehen – „doch das will ich nicht, ich will unabhängig sein“, und auch deshalb rette sie Lebensmittel, eine richtig gute Kombination sei das: „Ich erhalte auch viel Wertschätzung und ,Dankeschöns‘ – ein schönes Gefühl.“
Die „Kundschaft“ sei seit Sommer 2020 mehr geworden, ebenso die Anspruchshaltung: Mitunter werde sie gefragt, wo denn zum Beispiel die Erdbeeren herkämen, und wenn sie es nicht sagen könne, wollten die Menschen dann die Erdbeeren nicht: „Da muss man höflich bleiben und den Frust runterschlucken. Und es sind auch nicht immer nur Bedürftige dabei, die sich etwas vor der Tür abholen – das ist aber auch okay.“
Allgemein wünsche sie sich, dass sie gesund bleibt und dass weniger weggeworfen wird. „Doch dann bekommen die Leute, die weniger Geld haben, auch weniger zu essen – da bin ich ambivalent. Denn seit ich Lebensmittel rette, sehe ich, wie viele Menschen sich davon ernähren.“