Das letzte Lebenszeichen erreichte ihn am 20. Februar per Whatsapp – seit zehn Monaten weiß Mounir El-Serri nicht, wie es seinen zahlreichen Familienangehörigen im schwer umkämpften Gazastreifen geht. Nun läuft im Reihenhaus des Sozialpädagogen in der Neuen Vahr den ganzen Tag der Fernseher. „Al Jazeera verliest regelmäßig die Namen von Getöteten“, erklärt der 64-Jährige, der 1995 eingebürgert worden ist. Zwei Drittel seines Lebens hat er in Bremen verbracht, aber jetzt sind seine Gedanken sehr oft in Gaza – oder in Beirut, seiner Geburtsstadt, in der immer noch sieben Geschwister von ihm leben.
„Im Mai oder Juni hieß es auf Al Jazeera, die Familie El-Serri sei von einem Angriff der Israelis besonders betroffen“, berichtet der Bremer und fügt ganz nüchtern hinzu: „Täglich werden ganze Familien ausgelöscht. Ich fürchte, von meiner sind jetzt schon viele tot.“
Al Jadeed ist der zweite arabische Sender, über den sich El-Serri über die unsichere alte Heimat informiert. Hier bekommt er vor allem Nachrichten aus dem Libanon. Wichtigste Quelle sind jedoch – wie überall – persönliche Bekannte. „Ein Kollege in Bremen hat noch Kontakt zu seiner Familie in Gaza“, sagt El-Serri. Die Landsleute versuchten nun, seine Verwandten in Gaza zu finden – Telefonnummern habe man bereits ausgetauscht.
die Bevölkerung in Gaza seit der militärischen Reaktion Israels auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ständig auf der Flucht sei. Der Gazastreifen ist mit 360 Quadratkilometer Fläche zwar kleiner als das Bundesland Bremen (419 qkm), aber doppelt so dicht besiedelt wie Hamburg. „Allein in Khan Yunis leben jetzt eine Million Flüchtlinge“, betont Mounir El-Serri. Die seien untereinander wenigstens gut vernetzt, man unterstütze sich im Elend gegenseitig nach Kräften. Dennoch habe er von seinen Verwandten bislang nichts mehr gehört.
Verwandtschaft – die hat bei Palästinensern andere Dimensionen als bei deutschen Familien. „2012 gab es für mich bei einem Besuch in Gaza einen Familienempfang mit rund 400 Leuten“, erzählt El-Serri bei Schwarztee und Keksen – und lächelt erstmals. Er selbst habe acht Brüder und drei Schwestern, was nicht ungewöhnlich sei. Nach der Staatsgründung Israels 1948 flohen manche frühere Familienmitglieder nach Beirut, andere blieben in Jaffa, Jerusalem oder Ramallah. Ein Drittel aber zog ins damals ägyptisch verwaltete Gaza. „Die sind noch heute dort – mit einem großen Fragezeichen.“
Todesmeldungen im Fernsehen
„75 Tote in Beit Lahiya“ übersetzt Mounir das gerade über den Bildschirm flimmernde Laufband von Al Jazeera – und wir sind schlagartig wieder in der brutalen Gegenwart. Bewegte Bilder von kleinen Körpern, die in blutdurchtränkten Laken über die Trümmer von Gebäuden geschleppt werden. „Da, das sind die Hamas-Kämpfer“, kommentiert der Deutsch-Palästinenser mit bitterer Ironie.
Ein Gespräch über Völkermord-Vorwürfe gegen Israel und die seit fast 14 Monaten verschleppten jüdischen Geiseln ist bei aller Gastfreundschaft schwierig. „Warum fordern Sie eigentlich auf Ihren vielen Demonstrationen nie die Hamas auf, endlich die Geiseln freizulassen?“ – „Glauben Sie, dass die Israelis dann mit den Bombardierungen und der Blockade des Gazastreifens aufhören? Oder gar ihre Siedlungen im Westjordanland räumen?“ Nein, der 76 Jahre währende Nahostkonflikt wird ganz sicher nicht in einem Bremer Reihenhaus gelöst.
Mounir El-Serri hat nach eigener Darstellung als junger Mann die Massaker in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 nur mit Glück überlebt. Und natürlich wollte er mit dieser Erfahrung wenigstens einige seiner zahlreichen Verwandten aus der Hölle von Gaza herausholen – wenigstens nach Ägypten. „Die lebten zum Teil in Khan Yunis, im Lager Al-Chati am Strand oder in Gaza-Stadt“, berichtet El-Serri, der zwischen 2006 und 2012 regelmäßig dort war. „Als deutscher Staatsbürger und SPD-Mitglied in einer Bremer Delegation.“ Man stand damals im Austausch mit der arabischen Gemeinde Tamra, die auf israelischem Staatsgebiet ganz im Norden in der Nähe von Akkon liegt.
Das ermöglichte auch Besuche im bereits von den Israelis geräumten Gazastreifen. Dabei lernte El-Serri eine Cousine und deren vier Töchter näher kennen. „Zwei haben einen Doktortitel in Mikrobiologie, die anderen beiden einen Magister in Chemie. Damit schaffen sie doch überall ein anständiges Leben – außer eben in Gaza.“ Anfang Februar bat die Cousine ihn, die vier jungen Frauen herauszuholen. Doch der ägyptische Grenzübergang Rafah war schon dicht. „Schlepper verlangten bis zu 7000 US-Dollar pro Person, aber so viel Geld hatte ich nicht“, bedauert El-Serri.

Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern warten im September 2024 am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen darauf, die Grenze zu passieren.
Am liebsten hätte er die vier Frauen nach Deutschland geholt: „Die haben sogar einen Onkel in Bayern.“ Doch das wäre aussichtslos gewesen, auch für ihn als deutschen Staatsbürger. Die 29 Staaten des Schengener Abkommens – also auch die Bundesrepublik – hätten sich darauf verständigt, grundsätzlich kein Visum für Personen auszustellen, die statt eines Reisepasses lediglich ein Laissez-passer besitzen. Das trifft auf viele Palästinenser zu – auch der in Beirut geborene Mounir El-Serri hatte vor seiner Einbürgerung keinen libanesischen Pass, sondern lediglich diesen Passierschein oder „Fremdenpass“. Das dunkelbraune Dokument mit arabischer und französischer Beschriftung hat er sorgfältig in einem Ordner verwahrt, mit melancholischem Blick fingert er es aus einer Plastikhülle. Er wird es nie wieder brauchen.
Sechs Geschwister in Beirut
Doch von seinen Geschwistern leben noch vier Brüder und zwei Schwestern in Beirut. Aus deutscher Sicht ebenfalls in einem Kriegsgebiet, denn Ende November hat die israelische Luftwaffe die libanesische Hauptstadt immer wieder bombardiert. Die Angriffe galten Kadern der schiitischen Terrormiliz Hisbollah, die wiederum vom südlichen Libanon aus das nördliche Israel täglich mit einem Raketenhagel eingedeckt hatte. Libanesische wie palästinensische Zivilisten auch hier wieder zwischen den Fronten.
„Ein Bruder und seine Familie wohnen im Westen der Hauptstadt, im siebten Stock. Die haben das Bombardement schon mitbekommen“, erzählt El-Serri. Die anderen Brüder seien zu einer Schwester im Stadtzentrum geflüchtet. „Dann haben die Israelis einen Hisbollah-Kommandeur 50 Meter von deren Wohnung entfernt mit einer Rakete liquidiert. Meine Schwester erlitt einen Schock“, berichtet ihr mittlerweile deutscher Bruder, beinahe schon amüsiert.
Ein- bis zweimal im Jahr reise er selbst nach Beirut, um seine Geschwister zu treffen – und mittlerweile 58 Nichten und Neffen. „Alle verheiratet“, wie er betont. Unvermittelt lacht er bitter auf: „Ausrotten kann man uns halt nicht.“ Sorgen mache er sich vor allem um einen älteren Bruder: Der 69-Jährige habe eine schwere Lungeninfektion, auf Antibiotika reagiere der Körper nicht mehr. Zu gerne würde ihn Mounir El-Serri nach Deutschland zur Behandlung holen, doch ein Visum wird er wohl auch für ihn nicht erhalten. Es gibt zwar für den Schengen-Raum ein sogenanntes LTV-Visum, das nur die Einreise in einzelne Staaten ermöglicht. Ausdrücklich werden dafür humanitäre Gründe genannt, etwa „medizinische Behandlung in einem bestimmten Schengen-Land“. Aber für Palästinenser, die bloß über ein Laissez-passer verfügen, gilt auch das als nahezu unerreichbar.