Auf die Fahrt nach Bremen freut sich Handball-Nationaltrainer Alfred Gislason schon jetzt. Nicht etwa, weil seine Spieler nach einer Woche Trainingslager in Hannover mal eine Luftveränderung brauchen, sondern wegen der Atmosphäre am Sonnabend in der ÖVB-Arena, die mit 8872 Zuschauern ausverkauft sein wird. „Bremen ist ein guter Spielort“, lobt der Bundestrainer, „es tut den Jungs gut, in vollen Hallen zu spielen. So etwas zu erleben, ist ein Bonus vor der Weltmeisterschaft.“
Im Testspiel gegen Island (16.15 Uhr) erwartet Gislason hochklassigen Handball, wobei es für ihn ein komisches Gefühl ist, gegen sein Heimatland anzutreten – zum ersten Mal in seinem Leben. „Es hat mich sehr gefreut, dass wir diesen Gegner bekommen konnten. Das ist schon etwas besonderes für mich“, sagt der 63-Jährige, „aber ich stehe jetzt auf der anderen Seite.“ Zweimal wird seine Mannschaft an diesem Wochenende gegen Island testen, nach dem Spiel in Bremen gibt es am Sonntag in Hannover noch ein Duell. Auch dort ist die Halle ausverkauft (10.043 Zuschauer). Danach geht die Reise weiter zu Weltmeisterschaft in Polen und Schweden, wo am 13. Januar Katar der erste Gegner sein wird.
Die Eindrücke aus den Spielen gegen Island will Gislason nutzen, um bis zum WM-Start noch Feinjustierungen vornehmen zu können. Es hätte dafür leichtere Gegner gegeben als die Isländer, denen Gislason inzwischen Weltklasse-Potenzial bescheinigt, zumal der Kader gespickt ist mit Bundesligastars. Aber der Bundestrainer wollte keinen leichten Gegner kurz vor der WM, „denn was nützt einem eine trügerische Sicherheit nach hohen Siegen, wenn man dann bei der WM merkt, dass man das ein- oder andere noch hätte verbessern sollen“, erklärt er. Lieber sei es ihm, „in zwei harten Testspielen die Realität ins Gesicht zu bekommen – dann haben wir noch ein paar Tage Zeit, um etwas korrigieren zu können“.
Kein Probelauf für die Heim-EM
Der Nationaltrainer macht auch deutlich, was diese Weltmeisterschaft nicht sein soll: nämlich eine Art Vorbereitung auf die Europameisterschaft in Deutschland im kommenden Jahr. „Das Thema haben wir auch mit den Jungs besprochen“, berichtet er, „auch wenn wir jetzt eine ziemlich junge Mannschaft haben, denken wir im Hinterkopf nicht an die Heim-EM. Wir sind total fokussiert auf diese WM. Ich sehe es eher so, dass uns eine gute Weltmeisterschaft erst recht einen Schub geben würde für das Turnier in Deutschland. Alle sind sehr ehrgeizig und wissen, was sie können – und das wollen sie schon bei diesem Turnier zeigen.“
Nach der turbulenten EM im vergangenen Jahr in Ungarn und der Slowakei, die in der Hochphase der Pandemie einer Corona-Lotterie glich, sei die Stimmung im Team nun "überragend“, schwärmt der Trainer. Was an zwei Gründen liegen dürfte: Einerseits haben diese Pandemie-Erfahrungen den Kader noch enger zusammengeschweißt, andererseits freuen sich nun alle auf ein Turnier, das sich wieder nach einer echten Weltmeisterschaft anfühlen soll, mit Publikum und einem fairen Wettkampf. „Wir gehören zwar für viele nicht zu den Favoriten“, meint Gislason etwas schelmisch, „und wir sind in der Summe auch nicht so erfahren wie andere – aber wir haben eine gute Mischung. Unsere Mannschaft ist von der Mentalität und vom Charakter her stark und hat handballerische Klasse. Die Jungs wollen ihr Potenzial zeigen und wissen, dass sie Besonderes leisten müssen, um lange im Turnier zu sein.“
Über den Gegner Island will Gislason eigentlich nicht viel sagen. Unlängst hat er in seiner Heimat erwähnt, dass er die Mannschaft zu den Geheimfavoriten auf eine WM-Medaille zähle: „Das hat mein Trainerkollege gar nicht lustig gefunden. Es ist aber meine Meinung, auch wenn er sich dadurch unter Druck gesetzt fühlt.“ Island und Handball, das sind die besten Themen für den erfahrenen Gislason, und so plaudert er dann doch ein wenig über seine Heimat. Früher habe man immer gesagt, dass Island im Handball zur Weltspitze aufrücken könne, wenn sie mal einen guten Torhüter und einen Kreisläufer hätten. „Und jetzt haben sie das“, sagt Gislason, ganz abgesehen von all den Weltklassespielern auf den anderen Positionen.
Handball-Förderung in Island um Welten besser
Und das ist ein Phänomen. Island hat weniger Einwohner als Bremen, verfügt aber über eine solche Handballmannschaft und stellt bei dieser WM drei Nationaltrainer. Auf die Frage, wie das möglich sei für so ein kleines Land, gerät Gislason ins Schwärmen: „Jeder Jugendliche in Island kann nicht durchs Leben kommen, ohne mit Handball in Berührung zu kommen.“ Als Beispiel nennt er seine Enkelin, die zehn Jahre alt ist. Sie spiele jede Woche zweimal vormittags in der Schule Handball, dazu habe sie drei- bis viermal am Nachmittag Training, „mit richtig guten Trainern“. Die Betreuung, die ein junger Handballer in Island bekomme, sei "Welten von dem entfernt, was in Deutschland passiert“. Die Topvereine würden hier zwar auch gut ausbilden, in der Fläche aber fehle es, oft würde das Training erst spät abends angeboten. „Deutschland ist halt ein Fußball-Land“, sagt Gislason, „das soll keine Kritik sein, ich bin ja auch ein Fußballfan." Jetzt will er sich im Handball mit Island messen – vor ausverkauftem Haus in Bremen.