Schon von weitem ist die Musik zu hören. Eigentlich dringen aus dem Stadionbad im Sommer eher Stimmen von Kindern nach draußen. Jetzt sind es Bässe und Rhythmen. Um den Sprungturm herum stehen Lautsprecher, auf dem Sprungturm ganz oben, in zehn Metern Höhe, steht Chris Lorenz und kommentiert, was um ihn herum passiert. Denn er steht nicht allein dort oben. Um die 35 junge Männer, braun gebrannt, in Badehosen oder Wetsuits, klettern immer wieder die Leitern hoch und stürzen sich gekonnt in die Tiefe. X-Diving heißt das Ganze – es war einen Tag lang im Stadionbad zu bestaunen.
Einer, der das richtig gut kann, ist Jannik Harneit aus Scharnebeck bei Lüneburg. Er ist in der Szene vor allem für seine Schrauben bekannt, weil die gerade sind. „Viele kreuzen dabei die Beine“, erzählt der Perfektionist Harneit. Mit seinem besten Freund und Trainingspartner Rico von Selzam springt er auch mal synchron vom Turm. Nach dem Warmspringen versammeln sich alle Teilnehmer – einige sind aus Sachsen und Sachsen-Anhalt angereist – und heizen sich mit Saltos noch mal gemeinsam auf dem trockenen Rasen ein.
Dann geht es los – erst mal von der Fünf-Meter-Plattform. Ein einfacher Rückwärtssalto mit vier Schrauben war Jannik Harneits bester Sprung aus fünf Metern. Von der doppelten Höhe zeigt er einen doppelten Rückwärtssalto mit drei Schrauben. „Den hatte ich im Hinterkopf“, erzählt er. Eigentlich machen sich die Springer im Vorfeld nicht so viele Gedanken, wie sie den Turm herunter kommen. Es ist ja kein Wettbewerb, niemand verteilt Noten. Alles just for fun. „Man steht oben und überlegt sich: Was mach ich?“, sagt Jannik Harneit. Er arbeitet als sogenannter "Bufdi" – also als jemand, der Bundesfreiwilligendienst leistet – in einem Sportverein und hat sich auf die Show an der Weser nicht vorbereiten können, weil er in der Woche davor auf Seminar war.
"Jedes Mal eine Überwindung"
Wirklich tragisch ist das nicht, denn im Sommer verbringt er fast jeden Tag ein paar Stunden im Freibad und stürzt sich aus bis zu zehn Metern ins Wasser. „Es ist jedes Mal wieder eine Überwindung“, sagt er. Und das, obwohl der höchste Punkt, von dem er bislang abgesprungen ist, bei 20 Metern lag. Im Sommer tourt er mit Freunden immer für ein paar Wochen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz und springt dann nicht nur von Anlagen in verschiedenen Freibädern, sondern auch von Klippen. Das sei Nervenkitzel pur.
Im Stadionbad geht es deshalb auch für ihn wieder und wieder die Leiter hoch – und nach Saltos und Schrauben wahlweise mit den Füßen oder dem Hinterteil voran ins Wasser. Mit Hilfe des Leipziger Springers Chris Lorenz lernen diejenigen, die drum herum sitzen, was die jungen Männer da eigentlich zeigen. Lorenz kann nicht mitspringen und hält stattdessen ein Mirko in der Hand. Die Katze beispielsweise sei eine gar nicht so leichte Übung, erzählt er. Im Sprung zeigen alle Gliedmaßen nach unten, der Rücken zum Buckel gekrümmt, die Haltung einer fallenden Katze. Damit aber der Bauch und die inneren Organe beim Aufschlag auf die Wasseroberfläche keinen Schaden nehmen, muss sich der Springer kurz vor dem Eintauchen aufrichten. Das zumindest ist die Theorie. Dass dabei auch viel schief gehen, haben fast alle von ihnen schon am eigenen Leib erfahren.

Und ab geht's wie nach einem Start vom Katapult: Jannik Harneit bei einem Sprung vom Drei-Meter-Brett.
X-Diver sind Autodidakten. Trainer gibt es kaum. Wer springen will, schaut sich viel bei anderen ab, entweder vor Ort in der Community oder auf Online-Plattformen wie Youtube, sagt Lorenz. Timing, gute Nerven und Körperspannung brauchen diejenigen, die X-Diven wollen. Denn gerade von zehn Metern erreichen Springer eine Geschwindigkeit von knapp 50 Kilometern pro Stunde, erklärt Lorenz dem Publikum. Dabei müssen sie immer den Überblick behalten, wo sie sich gerade befinden und wie weit es noch bis zur Wasseroberfläche ist. Im richtigen Moment müssen sie sich in die richtige Position für das Eintauchen bringen. Und das Ganze im Bruchteil einer Sekunde. „Es wird schwieriger, je mehr Saltos und Schrauben in den Sprung kommen“, sagt Lorenz. Der unbedarfte Zuschauer könnte nun argumentieren, dass das mit zunehmender Höhe einfacher werde. Schließlich haben die Springer dann mehr Zeit, sich zu orientieren. Stimmt im Grunde auch, sagt Lorenz. „Aus hoher Höhe werden aber Fehler umso härter bestraft.“
Bestraft wird an diesem Tag im Stadionbad niemand. Der eine oder andere Bauchklatscher ist dabei, ein, zwei Springer landen auch mit dem Gesicht zuerst im Becken. Schaden nimmt dabei aber niemand. „Er hat seinen Bart als Airbag“, kommentiert Lorenz den Wangenklatscher eines Springers mit Augenzwinkern.

Kurz vor dem freien Fall: Ein Springer im Absprung, unten festgehalten vom Freund per Kamera.
Spezialtraining mit den Profis
Vor allem das junge Publikum ist angetan vom Können der Großen. Nach der ersten Showeinlage haben sie die Gelegenheit, sich von den Profis Tipps und Anleitung zu holen. Tom Niclas Rümpler hat sich Jannik Harneit als Tutor ausgesucht. „Ich fand seine Sprünge ganz gut“, sagt der Zehnjährige. Im Stadionbad und auf den Sprungtürmen dort ist er öfter und übt für sich schon den einfachen Salto und den Barani. Das ist ein Salto mit einer halben Schraube. Er kann also schon was.
Das fällt auch Harneit auf. Er schraubt bei seinem Lehrling nur an Feinheiten, wie die Haltung der Arme oder generell die Position beim Absprung. Kurz gerät der Junge ins Stocken und sucht dann doch den trockenen Weg runter vom Brett. Harneit hat ihm gezeigt, wie er rückwärts abspringt und einen Salto macht. Das sei zwar für ihn auch nicht neu, erzählt der Lehrling. Doch ausgerechnet an diesem Tag hat er das Selbstvertrauen dafür nicht. Also üben die beiden auf dem Rasen. Mehrmals wirbelt Harneit den Jungen rückwärts durch die Luft, damit er ein Gefühl dafür bekommt. Der Junge jedenfalls lächelt danach. Spaß hat es gemacht, erzählt er.
Nachwuchs an den Sport heranzuführen, war eine Intention der Show, sagt Daniel Döhling. Er hat bei den Bremer Bädern gerade seine Ausbildung abgeschlossen und wurde übernommen. In seiner Freizeit ist er X-Diver und kannte jeden Teilnehmer am X-Dive im Stadionbad schon vor dem Event persönlich. Bereits am Abend vorher waren alle angereist und haben unter sich den Turm getestet.
Für die X-Diver-Community ist nun Hochsaison. Den ganzen Sommer über sind die Springer unterwegs bei Shows oder Wettbewerben und zeigen, was sie können. Ein Höhepunkt, sagt Daniel Döhling, sei der „High Jump“ in Tschechien im August, bei dem auf Klippen noch zusätzlich Gerüste aufgebaut werden, damit es für die Springer noch höher hinaus und noch tiefer hinab geht.