Natürlich hat er noch auf dem Rad gesessen, ein paar Stunden, bevor er zum Weserstrand ins Bremer Mercedes-Kundencenter kommt. Er kennt in Bremen und Umgebung schließlich jeden Meter, da werden Erinnerungen wach an seine Kindheit. Von seinem Heimatort Fischerhude ist Lennard Kämna früher oft durchs Blockland oder in Richtung Norden gefahren – und auch mal durch Bremen, jedoch nicht all zu lange, wie er erzählt: "Denn durch Bremen ist man mit dem Rad ziemlich schnell durch."
Es sind Sätze wie diese, die das Publikum an diesem Abend zum Schmunzeln und zum Lachen bringen. Eigens für den Talk des WESER-KURIER ist er von seiner neuen Heimat in der Nähe von Bregenz am Bodensee in den Norden gekommen. Ein paar Tage verbringt er nun im Raum Bremen und genießt es, Zeit mit der Familie zu erleben. Viele Freunde und Verwandte sitzen im Publikum und freuen sich über seinen lockeren Auftritt, darunter seine Mutter, die Oma und die Tante. Sie erleben einen Lennard Kämna, der sich mit Moderatorin Bärbel Schäfer gekonnt die Stichworte zuspielt und auch Überraschendes preisgibt: Kämna überlegt nämlich, sich ein E-Bike anzuschaffen, vielleicht ja zu seinem 26. Geburtstag in der kommenden Woche: "Ich finde die ziemlich praktisch und bin schon mit einem E-Bike gefahren. Gerade am Bodensee, wenn es die Berge hochgeht, kann man damit entspannt fahren."

Entspannte Atmosphäre: Kämna im Gespräch mit Moderatorin Bärbel Schäfer.
Ein Radrennfahrer, der entspannt fährt? Da fragt Bärbel Schäfer natürlich nach, und tatsächlich: "Ich kann auch mal ganz entspannt fahren", erzählt Kämna. Dabei genießt er dann die Landschaft und die frische Luft. Er ist zwar ein Star der Tour de France, aber trotzdem nicht weit weg von den normalen Leuten. Das zeigt sich auch, als er über seine Erfahrungen mit drängelnden oder rasenden Autofahrern spricht. Im Training vermeide er inzwischen Haupt- oder Landstraßen, weil ihm das viel zu gefährlich geworden ist mit zu eng überholenden Autos und Lastwagen. Aber es lässt sich nicht immer vermeiden und er hat viele brenzlige Situationen erlebt, die er "den Horrror" nennt. Seine Reaktion in solchen Momenten? "Die ganze Bandbreite", sagt er, fluchen oder mehr, und manchmal fährt er auch hinterher. Etwa bis zur nächsten Ampel - und stellt dort den Übeltäter. "Meistens bekommt man dann aber nur aggressive Sprüche zu hören", weiß Kämna, "Autos und Fahrräder – das ist ein großes Streitthema in Deutschland."
Er selbst trainiert meistens am Bodensee, wenn er nicht gerade bei einem Rennen am Start ist. Sechs Tage Training sind normal in einer Woche, immer auf dem Rad. Mit ein paar Rennfahrer-Kollegen aus anderen Teams haben sie eine Art Trainingsgruppe gebildet. Sie alle leben im Dreiländereck von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Konkurrenten im gemeinsamen Training? "Ja, das geht", erklärt Kämna, man rede dabei grundsätzlich nicht übereinander und verrate auch nichts über den Fitnesszustand des anderen: "Was am Bodensee passiert, das bleibt am Bodensee." Das Publikum lacht. Und Kämna schmunzelt.
Er hat einen gesunden, fast schon trockenen Humor. Aber er kann auch über ernstere Themen reden. Zum Beispiel über die mehrmonatige Auszeit, die er im vergangenen Jahr brauchte, weil er sich irgendwie erschöpft fühlte. Ein schleichender Prozess sei das gewesen, keineswegs von heute auf morgen. "Du hast morgens plötzlich gar keine Lust aufs Training oder du merkst beim Fahren, dass es heute zäh wird – und das schon beim ersten Kilometer." Das war völlig untypisch für ihn, er wollte ja immer Rad fahren, schon als Kind. Er gewann Anfang 2021 sogar noch ein Rennen, "aber das war gar nicht befriedigend, dieser Sieg hat mir nichts gegeben". Also hinterfragte er alles und legte eine Pause ein, "denn so machte es mir wenig Freude". Er sei ein extremer Sportler, er trainiere entweder sehr hart – oder eben gar nicht hart. Deshalb wusste er: Wenn er nach der Pause wieder loslegt, würde er schnell wieder fit werden; einen Vertrag bei seinem Team Bora-hansgrohe hatte er ja auch noch. Er habe sich einfach mal vom Sport abgelenkt und andere Dinge gemacht. Und zum Glück, so sagt er, hatte er dann wieder die Motivation für den Radsport: "Sonst hätte ich wohl aufgehört."
Er schaue jetzt nicht anders auf den Radsport, betont Kämna nach seinem geglückten Comeback. Aber er schaue anders auf sich. "Ich muss nicht immer top performen, es darf auch mal ein Kilo mehr Gewicht sein", sagt er. Seine Auszeit sei wichtig gewesen. Kämna: "Viele Spitzensportler trauen sich das nicht oder sagen nichts, vielleicht aus finanziellen Gründen. Aber der Sport täte gut daran, seinen Spitzensportlern auch mal die Chance auf Pausen zu geben."

Das Prublikum genoss den Abend mit Lennard Kämna.
Gerade sein Beispiel zeigt, wie gut das sein kann. Denn in diesem Sommer nun klebte die Sportnation mitfiebernd an seinem durchgeschwitzten Trikot, als Kämna bei der Tour de France fast die anspruchsvolle siebte Etappe in den Bergen gewonnen hätte und erst kurz vor der Ziellinie eingeholt wurde. Ob das nicht schlimm gewesen wäre, fragt Bärbel Schäfer. Kämna gibt eine überraschende Antwort, für die er den lautesten Applaus des Abends bekommt: "Nein, gar nicht. Es war ein absoluter Traumtag, als Ausreißer den Berg hinauf zu fahren und als erster Fahrer vom Publikum angefeuert zu werden. So etwas habe ich als Kind im Fernsehen gesehen und davon geträumt. Auch wenn ich noch überholt wurde: Ich verbinde nur schöne Gefühle mit dieser Etappe."
Eine Erkältung zwang Kämna nur ein paar Tage später zur vorzeitigen Heimreise. Über eine verstopfte Nase und ein Kratzen im Hals hatte sich das schon eine Weile angekündigt. Und dann könne man eben nichts mehr machen: "Bei einer amtlichen Erkältung helfen auch noch so viele Wickeln nichts."

Strampeln für ein Zielfoto: Kämna machte auch diesen Spaß gerne mit.
Kämna hat noch viel zu erzählen. Über seine Anfänge, als er Bremen im Teenager-Alter verlassen musste, weil es hier an der Radsport-Infrastruktur und an Gleichgesinnten in seinem Alter fehlte, um ambitionierter zu fahren. Im Sportinternat in Cottbus fand er dann beides. Er spricht auch über das ständige Thema Doping, über dessen Gefahren alle Fahrer heute bestens aufgeklärt seien. Und über die außergewöhnliche Hitze in diesem Sommer, bei der er sehr viel trinken musste und viele Eispackungen im Nacken und auf der Brust brauchte. Und trotzdem sei er beim Rennen manchmal auf eine Körpertemperatur von knapp 40 Grad gekommen, was bei den Fahrern ständig gemessen werde.
Die Zuhörer kleben an seinen Lippen. Der Vorstand des WESER-KURIER, David Koopmann, hatte bei seiner Begrüßung im Mercedes-Kundencenter betont, nach zwei Jahren der Pandemie könne man endlich wieder so ein Event wie den Weserstrand-Talk erleben. Das Publikum genießt den Abend sichtlich. Und für Lennard Kämna ist es ein schöner Etappensieg in der Heimat.