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Unerreichbare Orte in Bremen Expedition in den Untergrund

Verlassen und fast vergessen – ein Besuch im düsteren Tunnel unter der belebten Brillkreuzung. 2009 wurde der Tunnel endgültig geschlossen.
07.05.2017, 20:32 Uhr
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Von Kristina Bellach

Verlassen und fast vergessen – ein Besuch im düsteren Tunnel unter der belebten Brillkreuzung. 2009 wurde der Tunnel endgültig geschlossen.

Ein kühler Sprühregen fällt auf die Brillkreuzung. Männer in orangefarbenen Warnwesten stehen an der Ecke vor dem Bettenhaus Wührmann. Es ist Zeit für eine kleine Expedition, an einen Ort, an den heute kaum jemand kommt: den Brilltunnel. Ein Stahlgitter liegt neben dem einzigen Zugang zum Tunnel, der nun offen ist. Rot-weiße Absperrschranken sichern den Einstieg: einen etwa drei Meter tiefen Schacht. Der Weg, den man früher per Rolltreppe hinunterfuhr.

Die Reise in die Vergangenheit, so spannend sie auch ist, geschieht aus einem praktischen Grund: es ist Sichtprüfung. „Wir machen einen Feuchtigkeitscheck, gucken, wie die Wände aussehen“, erklärt Martin Stellmann vom Amt für Straßen und Verkehr (ASV). Es darf keine Risse geben, der Beton darf nicht bröckeln. „Es ist ein Bauwerk, und was die Statik angeht, hat es die gleiche Funktion wie vorher auch“, erklärt Stellmann, den Bezirksingenieur Arend Kiefer und Udo Stapper begleiten.

Selten betritt jemand den Tunnel, am häufigsten haben hier zurzeit Mitarbeiter der Bremer Straßenbahn AG zu tun, die alte Schaltschränke ausbauen. Ansonsten sind ab und zu die Stadtwerke hier unten und das ASV zur Kontrolle. Einige Sprossen geht es an einer Stahlleiter herunter, dann ist man da. 4000 Quadratmeter groß ist die Fläche unter dem Brill.

Keine Ratten oder modrigen Gerüche

Zwei Dinge lassen den Besucher nicht los: zum Beispiel das dröhnende Rumpeln der Straßenbahn. Der Lärm kann durch die Ausgänge nicht mehr entweichen. Dazu gesellt sich ein beklemmendes Gefühl. Früher wurde der Tunnel als schnelle, trockene Querung zwischen Stephaniviertel und Innenstadt genutzt. Bei einer Zeitung vom Kiosk und einer Wurst am Imbiss konnte man hier sogar etwas Zeit verbringen. Nichts davon ist heute noch da. Über sieben Jahre sind vergangen, seitdem der Tunnel Ende 2009 endgültig geschlossen wurde. Es ist die Stimmung eines einst belebten Ortes, der heute verlassen und fast vergessen ist.

Außer der merkwürdigen Atmosphäre gibt es nichts Fieses. Keine Ratten und auch keine modrigen Gerüche. Nur einige Kabel hängen von der Decke, da, wo gerade an den Leitungen gearbeitet wird. Einige Deckenplatten stapeln sich in einer Ecke, auf dem Fußboden liegen Arbeitshandschuhe und ein to-go-Becher. Auch von den Geschäften, die es damals gab, ist nicht viel übrig. Beschmierte Glasscheiben – ja. Aber um zu wissen, welches bekritzelte Schaufenster zu welchem Imbiss oder Kiosk gehörte, muss man das frühere Bild kennen.

Steigt man auf der Ecke beim Bettenhaus ein, blickt man zunächst auf die nicht mehr vorhandene Front der Kaufhalle. Bereits 2004 hat man hier eine Wand einziehen lassen und damit die Fläche des Tunnels verkleinert. Als der Brilltunnel noch in Betrieb war, gab es dahinter eine große Glasfront. Die Wand ist wie fast jede Fläche des Tunnels besprayt und bekritzelt. Wüste Beschimpfungen und politische Parolen, die wenig Hoffnung machen. Nur selten ist etwas Positives dabei. „Renée liebt Debbie“ zum Beispiel.

"Zuerst war das hip und schick.“

Als 1968 der damalige Bausenator Wilhelm Blase den Tunnel eröffnete, schlugen die Herzen der Bürger höher. Ein bisschen Großstadtflair sollte die Unterführung nach Bremen bringen. Das änderte sich während der 1990er-Jahre und endete gänzlich, als die Sparkasse 1999 ihren Zugang im Tunnel schloss. Bäckerläden, Imbisse, Kioske, die Reinigung und der Zugang zur Kaufhalle verschwanden.

Nur die Kiefert-Bude blieb fast bis zum Schluss. „Zuerst war das hip und schick“, sagt Stellmann. „Später ist es einfach aus der Mode gekommen.“ Warum, weiß niemand genau. Wahrscheinlich ein Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels, vermutet er. „Am Anfang ist es gut und sicher, später nur noch ein Angstraum.“

In den Jahren des Niedergangs war es im Tunnel überhaupt nicht mehr schön: Müll lag herum, es gab Überfälle und Drogen. „Die Leute haben ihn als Pissoir benutzt“, beklagt Stellmann. Über 100 000 Euro im Jahr hat der Tunnel die Stadt am Ende gekostet. „Das ist eine ökonomische Denke. Wenn die Leute es nicht mehr annehmen, kann man es auch lassen“, lautet Stellmanns Fazit.

Dass es hier unten trotzdem noch recht frisch riecht, liegt an der Lüftungsanlage, ein Umbau der ehemaligen Entrauchungsanlage. Sie soll täglich automatisch anspringen, alte Luft raus- und frische Luft reinpusten. Kaum ist die Anlage in Betrieb, bläst einem ein frostiger Hauch entgegen. Stellmann führt in die stockfinsteren Bedürfnisanstalten. „Toilettenanlage geschlossen!“, verkündet ein Schild unnötigerweise.

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Die Glastür zu den Toiletten ist noch schmieriger als jede andere Scheibe, ein Keil hält sie offen, als kämen doch noch Besucher. Stellmann geht vor. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe erleuchtet einen düsteren Raum, in dem sich einmal zwölf Toiletten befanden. Dunkle Abdrücke an der weiß gekachelten Wand verraten, wo sie montiert waren.

Stellmann geht weiter, den Korridor entlang. Gespenstisch hallt das Rumpeln der Straßenbahn durch die Finsternis. Dieser Ort ist weder etwas für Zartbesaitete noch für Menschen mit lebhafter Fantasie. Es drängen sich so einige schaurige Gedanken auf. Bloß raus da, zurück in die verlassene Halle, die im bleichen Schein der Leuchtstoffröhren fast einladend wirkt.

Neben den Toiletten, unterhalb der kreuzenden Martinistraße, befinden sich Räume für Notstromaggregat und Pumpen. Eine schwere Tür geht auf, über eine Stiege geht es weiter hinunter. Hier sind die Pumpen, hinter einer weiteren Tür verbirgt sich ein riesiges Rohr, das sich durch einen schlauchartigen Raum zieht, bevor es wieder in der Wand verschwindet – die Überbrückung eines Abwasserkanals. „Der Tunnel ist ziemlich tief, da muss man gucken, dass man das verbunden bekommt“, erklärt Stellmann. Hier unten sind wir um einiges tiefer als im eigentlichen Tunnel.

"Hier gab es immer die Ki-Burger für zwei Mark.“

Weiter geht es zum ehemaligen Eingang bei der Hutfilterstraße, wo ehemals Kiefert seine Wurst verkaufte. „Als Kind bin ich hier schon durchgelaufen“, sagt Kiefer. „Da kommen Erinnerungen hoch. Hier gab es immer die Ki-Burger für zwei Mark.“ Heute gibt es hier nur eine leere Stelle, wo die Wurstbude war. Und eine kleine Wasserpfütze. „Das ist Fugenwasser“, sagt Stellmann. „Das wollen wir nicht, da müssen wir ran.“

Ein metallisches Kratzen zerschneidet die Stille im Tunnel. „Das sind die Kollegen mit der Schaufel“, informiert Stellmann. Tatsächlich, alles ist ganz harmlos. Hinter einer Trennwand liegt der alte Vorraum der Sparkasse. Durch das Stahlgitter oben an der Bürgermeister-Smidt-Straße kommt nicht nur Luft. Auch Zigarettenkippen, Blätter und Papierschnipsel wehen herein. Zwei Arbeiter kratzen den Dreck mit einer Schippe zusammen. Im hereinfallenden Licht leuchten die runden Fliesen in mehreren Farben. Ein Gruß aus den Sechzigern.

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