„Ich bin der lebendige Beweis, dass die Liebe Hass und Chaos überleben kann.“ Das sagte Stanislas Migdal im Denkort Bunker Valentin bei der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Befreiung vom Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 77 Jahren. Stanislas Migdal ist der Enkel von André Migdal (1924 bis 2007), der 1944 als Häftling nach Farge kam. Er wurde gezwungen, auf der Bunker-Baustelle zu arbeiten. Seine leidvollen Erfahrungen hat er in Schriften und Gedichten verarbeitet.
Heike Ellermann stellte bei der Gedenkveranstaltung ihr Künstlerbuch „Spuren & Narben – Zeitzeugnisse“ vor und übergab ein Exemplar an Stanislas Migdal und dessen Vater Yves Migdal. Ein Gedicht von André Migdal hat sie in ihr Leporello, ein sechs Meter langes Faltbuch, aufgenommen. In dem Text des ehemaligen Häftlings geht es um „die Auslöschung so vieler Leben durch Verbrechen“.
„Wir sind die Wahrheit, und die Toten sind unsere Beweise.“ Mit diesem Satz schließt das Gedicht. Ihn hat die Künstlerin als einzig lesbare Zeile in ihre Fotos eingearbeitet. Das Gedicht hat sie in 14 Sprachen übersetzen lassen, darunter Griechisch, Polnisch, Russisch und Lettisch. Es waren die Sprachen der Zwangsarbeiter, die den Bunker bauen mussten. Als Zeitzeuge habe Migdal über die Jahre unermesslich viel zur deutsch-französischen Aussöhnung beigetragen, betonte Ellermann.
Ausführlich erläuterte die Künstlerin die Entstehungsgeschichte des Leporellos. Sie habe den Bunker, den „grauen Koloss“, zunächst nur durch Radtouren gekannt, so die Oldenburgerin. Bei einem Besuch des Theaterstücks "Die letzten Tage der Menschheit" sah sie das Gebäude das erste Mal auch von innen. Mit der Oldenburger Historikerin Katharina Hoffman sprach sie über die Frage, wie Erinnerung gestaltet werden kann. „Damals entstand bei mir die Idee, den Bunker zum Gegenstand künstlerischer Arbeit zu machen.“
Bei einem ausführlichen Rundgang sei ihr Blick auf das Leid der Zwangsarbeiter gelenkt worden. So habe sie auch von André Migdal erfahren. Als Grundlage für ein Künstlerbuch machte Ellermann 2020 zunächst einmal Fotos vom Bunker. „Mir war aber klar, dass ein Projekt zum Bunker keine reine Fotoserie sein konnte.“ Zuerst habe sie wahllos fotografiert, "gesteuert von Farbe und Form". Dann gerieten Details, Metallstreben, Bohrlöcher und rostige Schrauben, in ihren Blick. Schließlich entdeckte sie eine Tafel mit dem Gedicht von André Migdal, die sie zuvor übersehen hatte. Sie beschloss: „Dieses Gedicht soll Baustein meines Buches werden.“
Yves Migdal richtete sich mit einer Ansprache an die Gäste. Er stehe mit großen Emotionen an dem Ort des Leidens, ließ er übersetzen. Sein Vater habe in Worte gefasst, was Schreckliches von den Nazis verbrochen wurde. Es sei wichtig dazu beizutragen, für den Frieden zu kämpfen. Thomas Köcher, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, hatte sich zuvor bei Yves und Stanislas Migdal für die Hilfe ihres Vaters beziehungsweise Großvaters bei der Einrichtung der Gedenkstätte bedankt. Frank Imhoff, Präsident der Bremischen Bürgeschaft, betonte, Ellermann habe eine „künstlerische hochwertige Arbeit“ geschaffen, die beklemmend und berührend zugleich sei.
Nach der Buchvorstellung legten Bürgermeister Andreas Bovenschulte und Frank Imhoff am Nachmittag Kränze am Mahnmal vor dem Bunker nieder. Er habe sich immer wieder gefragt, wie es damals "so weit kommen konnte", zu Fremdenhass, Gewalt und Nationalismus mit Millionen von Toten, sagte Imhoff. Er bedauerte, darauf keine Antwort zu haben. „Das macht mich fassungslos.“ Rechtsstaatlichkeit und Demokratie seien die Chance, Leid und Krieg zu verhindern.
Bürgermeister Bovenschulte sagte in seiner Ansprache: "Der 8. Mai ist auch ein Anlass über Schuld und Verantwortung nachzudenken." Er erinnerte an die im vergangenen Jahr verstorbene Holocaust-Überlebende und langjährige Vorsitzende des deutschen Auschwitzkomitees, Esther Bejarano. Sie habe sich noch bis kurz vor ihrem Tod dafür eingesetzt, dass der 8. Mai ein Feiertag wird. Dazu zitierte Bovenschulte Bejarano mit den Worten: „Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.“ In Bremen ist der 8. Mai seit zwei Jahren auf Beschluss der Bremischen Bürgerschaft ein offizieller Gedenktag.
Schülerinnen und Schüler der Humboldtschule in Bremerhaven lasen Texte von André Migdal. Spitzen der Fraktionen und Vertretungen der Opfergruppen legten weiße Rosen nieder. Die Unternehmerin und Sängerin Natalie Shtefunyk sang zwei ihrer Lieder, die das Leiden der Mütter in der umkämpften Ukraine thematisieren. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stand ebenfalls im Fokus der Reden. Dabei ging es um die aktuellen Verbrechen, aber auch um die Verbrechen der Nazis gegenüber den Menschen in der Ukraine und den Völkern in der ehemaligen Sowjetunion.