Farge. Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, startete Hitler-Deutschland seinen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Er forderte allein auf russischer Seite etwa 27 Millionen Opfer, davon mehr als die Hälfte aus der Zivilbevölkerung: Frauen, Kinder, alte Menschen. Tatsächlich waren von den Nazis noch deutlich höhere Verluste „eingeplant“; denn Deutschland brauchte aus ihrer Sicht dringend „Lebensraum im Osten“: „Es werden 30 Millionen verhungern. Vielleicht ist das gut so“ äußerte etwa Reichsmarschall Hermann Göring. Viele Hintergründe zu dieser fatalen Phase deutscher Geschichte kamen bei einer Gedenkveranstaltung im Bunker Valentin zur Sprache.
Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff wies eingangs darauf hin, dass wir wissen müssen, woher wir kommen, um im Hinblick auf Frieden und Demokratie die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen zu können. Der monströse Bunker sei dafür ein passender Ort. Mit der szenischen Lesung „Sonnenuntergang Ost“, text-akzentuiert von differenziert ausgeführten Paukenwirbeln durch Vasilisa Gordasevich, beleuchteten Kathrin Steinweg und Martin Heckmann mit unterschiedlichem Quellenmaterial einige Hintergründe der sogenannten Operation Barbarossa.
Unmenschlich und ungemein zynisch ist manches Zitat, so etwa, wenn der Staatssekretär des Reichsministeriums für Ernährung, Herbert Backe, die russischen Menschen beschrieb als solche, die Armut, Hunger und Genügsamkeit seit Jahrhunderten ertrügen und daher „dehnbare Mägen“ hätten, es also keinerlei Grund für Mitleid seitens der Besatzer gebe. Propagandaminister Joseph Goebbels vertraute seinem Tagebuch an, der deutsche Sieg sei der einzige Weg: Er sei recht, moralisch und notwendig. „Wir haben sowieso so viel auf dem Kerbholz, dass wir siegen müssen, weil sonst unser ganzes Volk … ausradiert werde.“
Über das "Wie" gab es dazu nicht minder deutliche Anordnungen des OKW (Oberkommando der Wehrmacht): Der bolschewistische Soldat habe jeden Anspruch auf ehrenhafte Behandlung nach dem Genfer Abkommen verloren, weil er mit jedem ihm zu Gebote stehenden Mittel ? Sabotage, Zersetzungspropaganda, Brandstiftung, Mord ? den Kampf gegen den Nationalsozialismus führe. Schonung sei falsch; vielmehr müsse „mit aller Schärfe“ vorgegangen werden. Kaum zu glauben, dass etwa der Vertrauensrat der deutschen evangelischen Kirche dem „Führer aufs Neue die unwandelbare Treue und Einsatzbereitschaft der gesamten evangelischen Christenheit des Reiches“ versicherte. Und kaum zu ertragen auch die zitierten Erinnerungen deutscher Soldaten, in denen vom „Judenschießen der SS“, von „Treibjagden“ und brutalen Ermordungen der Zivilbevölkerung berichtet wurde.
Dass es ähnlich grausam auch im Bunker Valentin zuging und die dort eingesetzten Zwangsarbeiter reihenweise durch Hunger und Erschöpfung sowie durch brutales Vorgehen der Wachmannschaften zu Tode kamen, kam ebenfalls zur Sprache durch entsprechende Zitate aus verschiedenen Quellen, darunter die 1995 veröffentlichten Erinnerungen von Raymond Portefaix in „Hortensien in Farge, Überleben im Bunker Valentin“.
100 Minuten Lesung gingen an die Substanz. Einige wenige Zuhörer verließen, wohl auch wegen der äußerst unangenehm feuchten Kälte im Bunker, vorzeitig die Veranstaltung. Sie verpassten den Schluss des Abends, nämlich die Tonaufnahme eines Satzes aus einer Rede des Ehrenvorsitzenden der AfD, Alexander Gauland, der die NS-Zeit darin ebenso menschenverachtend und sarkastisch als „Vogelschiss deutscher Geschichte“ bezeichnete.
Gleichzeitig mit der Lesung wurde die Ausstellung „Brücke der Erinnerung“ im Bunker eröffnet, die bis zum 15. August zu sehen ist. Sie zeigt auf etlichen Stellwänden faksimilierte Dokumente einzelner russischer Gefangener und deren Familien, informiert über Stammlager und Sammelgräber in Niedersachsen und vermittelt so einen bis in die Gegenwart reichenden Überblick über eine Zeit, die nicht vergessen werden darf.