Gemeinsam ganz langsam eine Kurzgeschichte lesen und über die Szenen miteinander sprechen. Das Konzept von „Shared Reading“ scheint sehr simpel, hat aber nachweisbar einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden der Teilnehmer. In Blumenthal findet am Dienstag, 30. Oktober, ab 14.30 Uhr das zweite Treffen eines Pilotprojektes statt, das seinen Ursprung in Liverpool hat und nun auch in Deutschland Einzug hält. Das geteilte Lesen zeigt nach Angaben der Initiatoren eine therapeutische Wirkung bei Demenz, chronischen Schmerzen, bipolarer Störung, Burnout oder Isolation.
Die gemeinsame Lektüre qualitativ hochwertiger Literatur „führt zu einem besseren Selbstwertgefühl, und die Menschen erleben ihr Leben als wertvoller“, versichert die Moderatorin Kerstin Graumann, beim Shared Reading Facilitatorin genannt. Die 62-jährige Biologin ist mit Leidenschaft ehrenamtlich als Literatur-Vermittlerin in Bremen unterwegs und möchte nun dabei helfen, in Blumenthal eine feste Gruppe für interessierte Senioren zu installieren. „In Bremen sind wir noch richtige Pioniere, aber ich denke, das gelingt. Und im Prinzip kann Shared Reading dann endlos laufen.“
Seinen Ursprung hat Shared Reading in Großbritannien. Hier hat die Begründerin Jane Davis dank des intensiven Umgangs mit Literatur ihre Drogensucht überwunden und wieder Fuß gefasst. Sie hat studiert, promoviert und vor 16 Jahren gemeinsam mit ihrem Mann, dem Literaturprofessor Phil Davis, das Shared Reading ins Leben gerufen. Mittlerweile gibt es in England 500 Gruppen mit zehn bis zwölf Teilnehmern, die sich jede Woche einmal treffen, um gemeinsam zu lesen: Kurzgeschichten, aber in Etappen auch ganze Bücher.
Jeweils 90 Minuten dauert eine normale Sitzung, Session genannt. Für demente Teilnehmer werden 60 Minuten anberaumt. In Großbritannien gibt es Sessions in Gefängnissen, Seniorenheimen, Krankenhäusern, auf Demenzstationen, in Suchtkliniken, aber auch in Unternehmen. „Reine Demenzgrupen sind eine riesige Herausforderung“, sagt Graumann. „Da ist immer viel Unruhe im Raum, und man ist danach erschöpft und durchgeschwitzt. Es ist Schwerstarbeit, macht aber auch Freude. Die Menschen blühen auf, werden sprachlich besser, lernen Rücksicht zu nehmen, werden humorvoller und vergessen ihre Schmerzen.“
Erforderlich sei ein ausgebildeter Facilitator, der innerhalb von vier Tagen angeleitet werden könne. "Senioreneinrichtungen könnten beispielsweise ihre Angestellten in Berlin entsprechend ausbilden lassen“, sagt die Biologin. „Bis dato sind in Deutschland nur 40 Facilitatoren unterwegs, aber ich bin überzeugt, dass es bald in Bremen einen Standort geben wird.“ Gregor Wittenburg, bei den Paritätischen Pflegediensten zuständig für innovative Projekte, hat das Shared Reading vor Ort angeschoben.
"Shared Reading dient der Bildung, der Gesundheit und der Gemeinschaft“, betont Kerstin Graumann. Die Texte wählen die Facilitatoren aus. „Geeignet ist Literatur, die Erlebnisse in guter Sprache schildert, damit die Leser sie nachempfinden können“, sagt die Expertin und nennt „Das höchste Feuerwerk der Welt“ von Martin Mosebach als Beispiel für eine gelungene Kurzgeschichte. Geeignet sei aber auch „Der schlafende Mann“ von Tove Jansson. Und als ganzes Buch wählt sie oft Charles Dickens „Domby und Sohn“. Diese Texte aktivierten bei den Zuhörern ungeahnte Gedanken und Gefühle.
In Deutschland gibt es Shared Reading seit zwei Jahren. Carsten Sommerfeld und Thomas Böhm, Initiatoren von Buchmessen und Kenner der Literaturszene, sind seinerzeit nach Liverpool gereist und haben anschließend für Deutschland, die Schweiz und Österreich ein Startup gegründet. Jetzt versuchen sie in Deutschland, ein nachhaltiges Netzwerk aufzubauen. „Die beiden Männer haben das Shared Reading zu ihrem Hauptberuf gemacht“, sagt Graumann.
Sie selbst habe sich nach einer Veranstaltung in der Zentralbibliothek sofort bei den Initiatoren gemeldet und inzwischen auch in Blumenthal eine Session mit zehn Senioren geleitet. Einer von ihnen war dement. „Anfangs hat man ihm das deutlich angemerkt, im Verlauf aber nicht mehr“, sagt Kerstin Graumann. „Phänomenal war das.“ Sie habe damals eine Kurzgeschichte langsam vorgelesen und anschließend eine längere Pause gemacht. "Irgendwann sagt immer jemand etwas. Manchmal diskutieren die Menschen auch miteinander. Dann muss ich sie zum Text zurückholen“, betont Graumann.
Den dementen Teilnehmer habe sie einbezogen, indem sie ihm das Bild vom "aufsteigenden Nebel" vor Augen geführt habe. „Er hat sich dadurch an etwas erinnert und das Erlebte mit dem Text verknüpft. An einem anderen Tag seien zwei Frauen nach der Lektüre des Gedichtes „Noch bist du da“ von Rose Ausländer spontan in Tränen ausgebrochen. Aber dann habe sich ein Austausch über das Leben entwickelt. "Da war Lebendigkeit im Raum“, erzählt Graumann. „Wie lange habe ich noch, und was mache ich mit der Zeit?“
Der Facilitator müsse sich zurücknehmen und dürfe keinesfalls Teil der Gruppe werden, so die Moderatorin. Turnusmäßig werde das Verhalten der Facilitatoren bei Supervisionen überprüft. „Wir kennen die Menschen anfangs nicht. Das sind echte Wundertüten“, sagt Graumann. Zuweilen gebe es auch unvereinbare Standpunkte unter den Teilnehmern. "Die muss man stehen lassen – nach dem Motto: Ich bin nicht deiner Meinung, aber du bist trotzdem in Ordnung.“ Radikale Gesprächsteilnehmer dürfe der Moderator nicht mundtod machen, Applaus sei aber auch falsch. „Das Shared Reading erfordert Langmut und Humor.“
Weitere Informationen
Anmeldungen für das Shared Reading am Dienstag, 30. Oktober, um 14.30 Uhr im Stadtteiltreff, Lüssumer Straße 1, unter der Telefonnummer 04 21 / 6 00 95 82.