Müsste, hätte, wäre – in den Sätzen von Tobias Laatz geht es inzwischen immer häufiger darum, dass etwas sein sollte, aber nicht ist. Dass beispielsweise ein Team abwechselnd über ihn wacht: seine Herzfrequenz, sein Beatmungsgerät, seinen Puls. Und dass an fünf Tagen die Woche jemand kommt, um seine Beine, Arme, Finger und Zehen zu bewegen. In den vergangenen Jahren hat es Tobias Laatz immer wieder erlebt, dass Intensivpfleger fehlten. Aber noch nie war die Situation so schwierig, dass er im Internet geschrieben hat, Hilfe zu brauchen.
Eigentlich – auch das ist so ein Wort, das täglich in seinen Sätzen vorkommt. Und in denen seiner Frau. Eigentlich, sagt Doris Laatz, steht ihrem Mann das Maximum zu: eine Pflegekraft am Tag und in der Nacht, werktags wie am Wochenende. So haben es Mediziner verordnet und so hat es die Krankenkasse genehmigt. Aber so ist es eben nicht. Die Ehefrau hat es grob überschlagen. Seit August wird Tobias Laatz nicht zu hundert Prozent von einem Pflegedienst versorgt, sondern zu fünfundzwanzig Prozent. Was bedeutet, dass es ausschließlich einen halben Monat lang Hilfe gibt und nur tagsüber. Für den Rest der Zeit kümmert sie sich um ihn.
"U-n-f-a-i-r." Wie er findet, was sie leisten muss, hat er schon oft diktiert. Sprechen kann Tobias Laatz nicht mehr. Er schreibt mit den Augen auf einem Bildschirm, was eine Computerstimme für ihn sagen soll. 2015 diagnostizierten Ärzte bei ihm ALS – das Kürzel steht für Amyotrophe Lateralsklerose, eine Nervenkrankheit. Sie ist unheilbar. Laatz, 42, Blumenthaler, drei Kinder hat die Kontrolle über seinen Körper verloren. Kein Muskel – bis auf das Herz und der für die Augen – macht, was er soll. Seit 2017 liegt er. Der Familienvater wird über einen Schlauch im Hals beatmet und über eine Sonde im Magen ernährt. Nach ersten Prognosen sollte er längst tot sein.

Das Beatmungsgerät: Seit Jahren ist Tobias Laatz auf Technik angewiesen, die ihn am Leben hält.
Immer wieder sah es so aus, als würde er jetzt sterben. Zuletzt vor anderthalb Monaten. Rettungskräfte mussten ihn erneut in eine Klinik bringen. Er hatte fast 41 Grad Fieber. Sein Herz raste – es schlug nicht neunzigmal die Minute wie in Ruhephasen, sondern hundertvierzigmal. Er verlor immer wieder das Bewusstsein. Die Ärzte brauchten eine Woche, um seinen Zustand zu stabilisieren. Sie sagten, dass sie nichts mehr für ihn hätten tun können, wenn er einige Stunden später ins Krankenhaus gekommen wäre. Was es genau war, ist unklar. Wovon Tobias Laatz ausgeht, ist: "S-t-r-e-s-s." Nicht mehr zu wissen, wie es weitergehen soll, schreibt er, macht krank.
Dass er gerettet wurde, verdankt er den Ärzten – dass er neun Jahre nach der Diagnose noch lebt, der Familie. Und dass er bei ihr sein kann. So schreibt er es. Tobias Laatz könnte auch in einer Pflegeeinrichtung versorgt werden. Oder in einer Wohngemeinschaft für Menschen, die beatmet werden. Doch dort, glaubt er, könnte er keine Kraft schöpfen wie zu Hause. Er will sehen, wie seine Kinder von der Schule kommen. Hören, was sie erlebt haben. Oder was sie sich erhoffen. Fabienne kommt ins Zimmer. Die jüngste Tochter legt einen Wunschzettel für Weihnachten auf die Bettdecke ihres Vaters. Sie ist sieben. Seine Stimme hat sie nie gehört.
Dafür die Stimmen von vielen anderen, die ins Haus kamen und irgendwann nicht mehr. Doris Laatz kann nur schätzen, wie häufig die Pflegekräfte in den vergangenen Jahren wechselten. Sie hat irgendwann aufgehört zu zählen. Sie glaubt, dass es zwischen 50 und 60 waren, die sich zeitweise gekümmert haben. Manche über Monate, andere über Tage. Zu den ersten Helfern hatten sie noch einen persönlichen Kontakt, zu den späteren nicht mehr. Unterm Strich gab es nur eine einzige Phase, in der genügend Personal da war. Ansonsten war es immer dasselbe: Kaum war ein Team komplett, sprang auch schon jemand ab – und ging die Suche nach Ersatz von vorne los.

Salben, Verbände, Medikamente, Kanülen, Spritzen: Was Tobias Laatz braucht, ist immer griffbereit.
Mit der Folge, dass Doris Laatz, 35, gelernte Verkäuferin, nicht machen konnte, was sie gerne gemacht hätte: für die Familie sorgen, einen Job annehmen. Sie sagt, dass sie vier Angebote hatte und alle absagen musste, um erneut einzuspringen, weil eine Pflegekraft abgesprungen war. Manchmal so kurzfristig, dass keine Zeit für die Mutter blieb, Fabienne in die Schule zu bringen. Inzwischen ist sie die beständigste Intensivpflegerin an der Seite ihres Mannes, ohne jemals zur Intensivpflegerin ausgebildet worden zu sein. Dass sie da ist, hatten manche Pflegedienste bei ihren Personalplänen für den nächsten Monat fest einkalkuliert. Auch sie wechselten.
Beide haben Helfer erlebt, die klasse waren – und welche, die nicht geholfen haben. Die eine Ausbildung zum Pfleger hatten, aber nicht zum Intensivpfleger. Die sich mit der Technik, die Tobias Laatz am Leben hält, nicht auskannten. Die von Doris Laatz geweckt werden mussten, ehe sie auf einen Alarm reagierten. Und die ihre Töchter, wenn die Situation am Krankenbett angespannt war, angeschrien haben. Die Ehefrau sagt, dass es einige gab, die sie über längere Zeit angeleitet hat. Und andere, die noch am ersten Tag erklärten, am nächsten nicht mehr wiederzukommen. Mal lehnten sie bestimmte Tätigkeiten ab. Mal wollten sie lieber ausschließlich nachts arbeiten.
Tobias Laatz schreibt und zeigt im Internet, was die Krankheit mit ihm macht – und warum der Fachkräftemangel seine Situation und die seiner Familie verschärft hat. Und jetzt so sehr belastet, dass er sich an seine Community gewandt hat: "W-i-r b-r-a-u-c-h-e-n m-e-h-r P-f-l-e-g-e-k-r-ä-f-t-e." Er weiß, dass es vielen anderen genauso geht wie ihm. Und dass es unwahrscheinlich ist, jemanden im Internet zu finden, der noch freie Kapazitäten als Intensivpfleger hat und auch zufällig in der Nähe wohnt oder arbeitet. Doch einfach nichts tun, kann er nicht. Inzwischen gibt es von ihm 395 Videos auf Instagram und 258 Menschen, die diese Videos angeschaut und geteilt haben.
Seit zwei Monaten hat die Familie einen neuen Pflegedienst und eine neue Kraft, die sich um Tobias Laatz kümmert. Sie ist – neben seiner Frau – momentan die einzige. Der Anbieter hat angekündigt, demnächst das Team zu erweitern. Wie auch schon andere vor ihm.