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Ein Leben mit ALS Warum die Welt von Tobias Laatz kleiner geworden ist

Tobias Laatz hat ALS. Die unheilbare Nervenkrankheit sorgt dafür, dass er die Kontrolle über seinen Körper verloren hat. Er liegt im Bett. Seit einem Jahr hat er sein Zimmer nicht mehr verlassen.
19.01.2020, 21:22 Uhr
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Warum die Welt von Tobias Laatz kleiner geworden ist
Von Christian Weth

Seit er die Kontrolle über seinen Körper verloren hat, ist die Welt von Tobias Laatz kleiner geworden. Sein Himmel ist jetzt eine weiß tapezierte Gipsfaserdecke, seine Sonne eine gläserne Baumarktslampe mit Spiralmuster, sein wichtigstes Fenster nach draußen ein Computerbildschirm mit Internetzugang. Knapp 20 Quadratmeter misst das Zimmer, in dem er liegt – und das er seit einem Jahr nicht mehr verlassen hat.

Die meisten Menschen, die so viel Zeit in ein und demselben Raum verbringen, kennen irgendwann jeden Fleck an der Wand und jedes Astloch in der Vertäfelung. Tobias Laatz ist jedoch nicht wie die meisten Menschen. Er hat das Zimmer zuletzt vor vier Jahren im Ganzen gesehen. Damals konnte er noch gehen, seine Arme bewegen, seinen Kopf. Jetzt sieht er vom Raum nur einen Ausschnitt. Der Blickwinkel seiner Augen gibt ihn vor: Links, halb verdeckt von Infusionsflaschen an einem Metallständer, der Einbauschrank mit Spiegeltür. Rechts, neben seinem Klinikbett, das Bett seiner Frau. Vor ihm der Flachbildschirm.

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Welche Zahlen auf den Monitoren der Apparate aufleuchten, die ihn am Leben halten, kann er nicht erkennen. Sie sind auf Höhe seines Kopfkissens und damit außerhalb seines Blickfelds. Genauso wie die Spritzen, die Einweghandschuhe, die Schläuche und Pumpen. Tobias Laatz, 37, drei Kinder, Nordbremer, hat ALS: Amyotrophe Lateralsklerose, eine unheilbare Nervenkrankheit. Wer sie hat, kann irgendwann keinen Muskel mehr bewegen. Nicht mehr allein atmen, nicht mehr sprechen. Darum der Bildschirm. Tobias Laatz schreibt mit den Augen auf einer virtuellen Tastatur, was der Rechner für ihn sagen soll.

Nie allein und trotzdem einsam

„G-e-f-ä-n-g-n-i-s“. Sein Körper ist zu einem geworden, aber auch das Zimmer. „A-l-l-e-s“, sagt die Computerstimme, „l-ä-u-f-t w-e-i-t-e-r, o-h-n-e m-i-c-h.“ Tobias Laatz kann Leonie und Pia hören, wenn die älteren Kinder nach der Schule im Wohnzimmer die Tanzschritte nachmachen, die Computerfiguren im Fernsehen vormachen. Er versteht auch, was Fabienne, die Jüngste, zu seiner Frau sagt, wenn beide im Sommer in einem Planschbecken auf dem Balkon sitzen. Er bekommt mit, was Doris Laatz mit den Töchtern beim Frühstück, Mittagessen und Abendbrot bespricht. Er kann aber nicht mit ihnen am Tisch sitzen.

Tobias Laatz liegt jetzt seit fast zwei Jahren ohne Unterbrechung. Vom Bett aus kann er nicht sehen, wie es draußen Sommer wird, Herbst und Winter. Er ist nicht dabei, wenn die Familie am Tannenbaum sitzt, wenn es eine Kaffeetafel für Besucher gibt, wenn die Kinder am Schreibtisch lernen. Er schreibt, dass er nie allein ist, aber trotzdem manchmal einsam. Damit er sieht, was um ihn herum passiert, macht Doris Laatz immer wieder Fotos und kurze Filme mit dem Smartphone: von Leonie und Pia, wie sie Roller fahren vorm Haus, von neuen Möbeln für die Kinderzimmer, von seiner Tante beim Essenmachen in der Küche.

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Er hat mal geschrieben, Angst davor zu haben, irgendwann nichts mehr zu können. Nur noch zu hören und zu sehen, was um ihn herum geschieht. Nur noch Gedanken zu haben, sie aber niemandem mitteilen zu können, weil auch die Muskeln seiner Augen versagen und er mit ihnen nicht mehr schreiben kann. Er weiß, dass diese Zeit kommen wird. Er hat es gelesen. Tobias Laatz stellt sich vor, dann wie ein Möbelstück zu sein. Es sind dunkle Momente, in denen er das denkt. Sie kommen jetzt öfter. Und gehen nie sofort, auch dann nicht, wenn sich Tobias Laatz von ihnen abzulenken versucht.

Meistens mit fernsehen. Er hat keinen Psychologen, der ihm zuhört. Und seine Frau will er nicht belasten: „S-i-e m-a-c-h-t s-c-h-o-n s-o v-i-e-l.“ Tobias Laatz kommt auf vier Filme pro Tag. Die meisten haben mit Helden zu tun. Er schreibt, das zu brauchen: „D-r-a-m-a-t-i-k, L-i-e-b-e, e-i-n H-a-p-p-y E-n-d.“ Er weiß, dass die DVDs ihn noch mehr zu dem machen, was er nie werden wollte: ein Zuschauer. Er schreibt aber auch, dass sie ihm helfen, mit Panikattacken fertig zu werden. Tobias Laatz hat Angst davor, was noch kommt. Angst um seine Kinder. Angst zu ersticken.

Filme unterteilen den Tag in Einheiten

Die Filme machen noch mehr. Sie unterteilen den Tag in Einheiten. Wie die Mahlzeiten bei gesunden Menschen. Nur dass Tobias Laatz anders isst als sie und ihm egal ist, wann und was. Er schmeckt nichts. Weil für ihn Schlucken unmöglich geworden ist, wird er über eine Sonde ernährt. Neben ihm hängt ein Plastikbeutel mit Brei. Ist er leer, gibt es einen zweiten. Tobias Laatz merkt das manchmal nicht. Das Filme­schauen ist für ihn deshalb das bessere Zeitmaß: Eine DVD nach dem Aufwachen, eine zweite, bevor die Kinder aus der Schule kommen, eine am Nachmittag und eine am Abend.

Jeden Tag geht das so. Deshalb ist fast jeder Tag für ihn wie der andere. Manchmal weiß er nicht, ob Montag oder Mittwoch ist, ob heute jemand kommt für die Ergo- oder die Lymphtherapie. Viermal in der Woche hat er Anwendungen. Auch sie unterteilen den Tag: 30 Minuten wird er gedehnt und gestreckt, 30 Minuten massiert. Früher kam noch eine Logopädin. Doch weil die bisherige Therapeutin weg ist und die neue nicht mit dem Sprachcomputer umgehen kann, sind die Termine vorerst gestrichen – bis eine Therapeutin gefunden ist, die das kann.

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Damit nicht immer alles so ist wie sonst, dekoriert Tobias Laatz regelmäßig um. Seine Frau nennt es so, wenn sie seine Filmhelden neu positionieren soll. Er hat sie alle aus Plastik: Batman, Superman, Ironman. Hulk, Joker, Venom. Thor, Hellboy, The Flash... Erst reihten sie sich auf einer Kommode. Jetzt stehen sie in Regalen. Mal waren die Guten und Bösen gemischt. Nun sind sie getrennt. Anders als die Game-of-Thrones-Könige und -Ritter. Sie bilden eine Einheit mit einem Game-of-Thrones-Schwert, das neben einem Game-of-Thrones-Poster hängt. Tobias Laatz kommt auf 70 Figuren.

Warten auf den Rollstuhl-Umbau

Die Zahl der Teile, die es brauchte, um seinen Rollstuhl umzubauen, war nicht mal halb so groß. Und trotzdem dauerte es fast anderthalb Jahre, bis sie geordert, geliefert und montiert werden konnten. Seit vier Monaten ist der Rollstuhl endlich so, dass Tobias Laatz in ihm sitzen und das Zimmer verlassen könnte – wenn es denn jemanden gäbe, der seiner Frau helfen würde, ihn mit einem speziellen Lift in den Sitz zu hieven. Der Umbau wurde fertig, als der Pflegedienst mitteilte, kein Personal mehr zu haben.

Doch auch wenn die Intensivpfleger da wären, könnte Tobias Laatz nicht sitzen. Jedenfalls nicht sofort. Die Therapeuten sagen, dass er inzwischen zu lange gelegen hat. Und dass er deshalb erst wieder üben müsste, mit seinem Oberkörper in einer aufrechten Position zu sein. Ohne wochenlanges Training würde sein Kreislauf kollabieren. Sie wissen, warum Tobias Laatz am liebsten liegt, fast ausschließlich auf dem Rücken. In dieser Position, erklären sie, hat er die wenigsten Schmerzen. Schmerzfrei ist er so gut wie nie. Auch an diesem Tag nicht.

Am Abend wird er machen, was er immer macht: einen Film schauen. Diesmal guckt er Rocky V, zum sechsten Mal. Es gibt keinen Film in seiner DVD-Sammlung, den er nur einmal gesehen hat.

Weitere Informationen

Was macht das mit einem, zu erfahren, unheilbar krank zu sein – mit seiner Frau, seinen Kindern, den Freunden? In der Serie „Ein Leben“ haben wir versucht, Antworten zu geben: Ein Jahr lang begleiteten wir Tobias Laatz. Mit dem Ende der Serie hat der Kontakt nicht aufgehört. Wir besuchen die Familie weiterhin, um über sie zu schreiben, jedoch in größeren Abständen.

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