Reinhard Kleiber nimmt sich kurz die Zeit, unterbricht seine Gartenarbeit und kommt an die Hofeinfahrt. Dort drüben, sagt er und zeigt nach links auf ein kleines Wäldchen neben dem Grundstück, habe vor einigen Wochen noch das Wasser gestanden. Auf den Feldern gegenüber sowieso, und auf dem Grundstück rechts von ihm haben „die Pferde bis zum Bauch im Wasser gestanden“, wie es eine andere Nachbarin beschreibt. Sein Grundstück sei hingegen verschont geblieben, weil es wenige Zentimeter höher liege als das Umland, so Kleiber. Obwohl er seit 50 Jahren in Borgfeld wohne, sagt er stirnrunzelnd: "Das habe ich so auch noch nicht erlebt."
Zusammen mit seinen Nachbarn wohnt Kleiber in einem sogenannten Überschwemmungsgebiet. Dass das Wasser dort auch mal höher steht, überrascht niemanden. So extrem wie zuletzt war es laut den Anwohnern jedoch lange nicht mehr. Der Klimawandel begünstigt Wetterextreme wie diese. Eine Untersuchung des Gesamtverbands der Versicherer (GDV) zeigt: Mehr als 300.000 Adressen in Deutschland sind akut hochwassergefährdet – mehr als 400 davon in Bremen (wir berichteten). Die Schwerpunkte liegen dabei im Mündungsbereich der Lesum, an der Grollander Ochtum, am Weserbogen und rund um die Borgfelder Wümmewiesen.

Rot markiert sind Adressen in Überschwemmungsgebieten, orange Flächen, die gefährdet sind.
Mit einem Forderungskatalog wendet sich der GDV an die Politik und verlangt einen Stopp von Neubauten in Überschwemmungsgebieten, Naturgefahrenausweise für bereits errichtete Gebäude und einen deutlichen Ausbau der Hochwasserprävention in diesen Gebieten. Es ist die Antwort auf wiederkehrende Forderungen nach einer Pflichtversicherung für Menschen, die in Überschwemmungsgebieten wohnen.
Eine GDV-Sprecherin erklärt dazu jedoch: „Eine Versicherung alleine löst überhaupt gar kein Problem.“ Vielmehr gehe es um Transparenz und Prävention. Viele Anwohner wüssten gar nichts von öffentlichen Informationsangeboten wie etwa den Überschwemmungskarten im Bremer Geoportal, welches schon mit Daten von 2018 einen Großteil der zuletzt überfluteten Areale aufgezeigt hatte.
Zurück in Borgfeld zeigt sich zumindest bei einer Stichprobe, dass tatsächlich kaum jemand Präventionsmaßnahmen abseits einer Elementarschadenversicherung ergriffen hat. Während die umliegenden Felder noch knöcheltief unter Wasser stehen und immer wieder Berge mit Sandsäcken am Straßenrand auftauchen, sind die kleinen Deiche in der Landschaft auf den ersten Blick kaum zu erkennen, am ehesten noch an Straßennamen wie etwa Am Großen Moordamm. Ein Anwohner berichtet, dass die alten Höfe in der Regel noch auf Warften, speziell aufgeschichteten Erdhügeln, errichtet wurden. Dass heute teilweise ganze Neubauten mitten im Überschwemmungsgebiet entstehen, darüber kann er nur den Kopf schütteln.

Mehrere Bautrockner und Dutzende Meter Schläuche sind notwendig, um dieses Haus in Borgfeld nach dem Hochwasser wieder trockenzulegen.
Ein paar Hundert Meter weiter liegt ein Hof direkt neben einer großen Seenlandschaft, die mal ein Acker war. Er war vor einigen Wochen besonders von den Überschwemmungen betroffen, das Wasser stand selbst im Haus fast kniehoch. Weil den Bewohnern der Medienrummel in den vergangenen Wochen zu viel war, möchten sie an dieser Stelle nicht mit Namen auftauchen. Eine Führung durch das, was mal ihr Zuhause war, geben sie dennoch. Die Gebäude sind inzwischen entkernt, rund um die Uhr laufen hier Bautrockner, um die feuchten Wände wieder trocken zu kriegen. Obwohl das Haus derzeit noch unbewohnbar ist, sind die Anwohner froh, dass sie zumindest öffentliche Hilfsgelder erhalten und eine Elementarschadenversicherung abgeschlossen hatten.
Was Maßnahmen bewirken können
Aber abseits davon? Das Haus wurde in den 70er/80er-Jahren zumindest ohne Keller errichtet, und der Vorbesitzer habe mal einen kleinen Erdwall um das Haus gezogen, sagen die Anwohner. Wirklich was gebracht habe der private Mini-Deich jedoch nichts. Nach dem Hochwasser hatten sie sich kürzlich bei einem Fachunternehmen erkundet, ob sich das Haus komplett gegen Wasser abdichten lasse. Es stellte sich jedoch raus: Türen und Fenster würden auch weiterhin eine Schwachstelle bleiben. Also wird erst mal getrocknet, hoffentlich bald wieder eingezogen und dann weitergeschaut.
Was Präventionsmaßnahmen gegen Hochwasser jedoch bewirken können, zeigt sich in der Stadt Grimma bei Leipzig. Bis vor Kurzem hatten Versicherungsgesellschaften die Kreisstadt noch auf dem sogenannten Zürs-Überschwemmungsindex in die höchste Kategorie 4 einsortiert, weil sie besonders häufig von Hochwasserlagen betroffen war. Gezielte Präventionsmaßnahmen hätten jedoch dazu geführt, dass die Stadt inzwischen in die deutlich sicherere Kategorie 2 einsortiert wurde, so der GDV.