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Von Odessa nach Borgfeld Wie ukrainische Kinder an der Grundschule am Saatland lernen

Wie können Kinder im Schulalltag ankommen, die vor ein paar Wochen ihr Zuhause verlassen mussten, weil in ihrem Land ein Krieg tobt? Die Borgfelder Grundschule am Saatland findet darauf gerade eine Antwort.
07.06.2022, 11:00 Uhr
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Wie ukrainische Kinder an der Grundschule am Saatland lernen
Von Petra Scheller

Borgfeld. Manchmal muss es einfach schnell gehen, sagt Kerstin Kinner, während sie mit Andrea Ipgefer ein paar Unterrichtsmaterialien zusammenstellt. Die Direktorin der Grundschule am Borgfelder Saatland und die Lehramtsstudentin der Universität Bremen sind inzwischen ein eingespieltes Team. Seit zwei Wochen unterstützt die 24-jährige Studentin das Schulteam am Saatland bei der Integration von Kindern, die vor ein paar Wochen mit ihren Familien aus der Ukraine geflüchtet sind. "Zurzeit sind es drei Jungen und ein Mädchen, die eingeschult wurden, zwei weitere werden im Sommer dazukommen", berichtet Schulleiterin Kinner. "Das klingt erst mal nicht viel – doch wir stehen damit vor großen Herausforderungen."

Wie kann Normalität aussehen, wenn Zuhause ein Krieg tobt?

Die große Frage sei: Wie können Kinder im Schulalltag ankommen, die vor ein paar Wochen ihr Zuhause in Odessa oder Kiew verlassen mussten, weil vor ihrer Haustür ein Krieg tobt? Die Borgfelder Grundschule am Saatland findet darauf gerade eine Antwort. Während Dima, Illja und Timoffii bereits in ihre Klassenräume verschwunden sind, spielt die achtjährige Nastija noch im Hortraum des benachbarten Murmelkindergartens. Die Grundschule leidet seit Jahren unter Raumnot. Als Schulleiterin Kerstin Kinner deshalb den Leiter des benachbarten Kindergartens Murmel, Dennis Köhlenbeck, nach einem Integrationsraum fragte, bot dieser sofort Hilfe an.

Wie gelingt Integration?

Seitdem schlüpfen die vier regelmäßig durch die große Glastür der Schulaula, die mit dem Kindergarten verbunden ist – nicht nur für den eigens für sie eingerichteten Sprachunterricht, sondern auch als Rückzugsmöglichkeit. Der Lernerfolg der Sieben-, Acht- und Zehnjährigen sei toll, sagt Studentin Ipgefer. "Deutsch ist jetzt ihr Lieblingsfach. Der Lernerfolg ist riesig." Einmal in der Woche besuche zudem die Lilienthaler Kinderpsychologin Lyuba König die Gruppe. "Die Psychologin spricht Ukrainisch und Russisch – sie macht das hier ehrenamtlich", berichtet Direktorin Kinner. Das sei ein Geschenk.

Wie lassen sich Sprachbarrieren überwinden?

Nastija, Dima, Illja und Timoffii verständigten sich mit ihrer Sprachlehrerin Ipgefer anfangs nur auf Russisch. Die Großmutter der Studentin hatte ihrer Enkelin die Sprache beigebracht. Die Kinder aus der Ukraine sind alle zweisprachig aufgewachsen – sie sprechen, lesen und schreiben Ukrainisch und Russisch, berichtet Ipgefer. "Inzwischen sprechen wir am Anfang der Sprachkurse nur Deutsch. In einem geschützten Raum ist das leichter."

Sie wolle Lehrerin werden, weil sie gerne helfe, erklärt die Studentin. In ihrem Berufsalltag ist sie inzwischen Sprachlehrerin und Integrationshelferin – tröstet, vermittelt, hört zu, spendet Zuversicht und empfängt Vertrauen. "Ich helfe auch im Klassenverband und bin dann für alle Kinder da. Das ist sehr wichtig, nur so gelingt Integration", sagt die Studentin. Eine weitere große Hilfe für die Neuankömmlinge aus der Ukraine seien Kinder, die in Borgfeld russischsprachig aufgewachsen seien. "Kinder machen keine Unterschiede zwischen den Nationen, sie begegnen sich als Menschen", unterstreicht Ipgefer.

Wer bezahlt die Werkstudentin?

Bezahlt wird ihre Stelle zum Teil über den Arbeiter-Samariter-Bund (ABS) aus einem Topf, der sich "Souveräne Verstärkungsmittel" nennt. "Damit konnte ich ihren Vertrag aufstocken", erklärt Schulleiterin Kinner. 20 Stunden pro Woche hilft Andrea Ipgefer an der Schule inzwischen aus. Einen strukturierten Plan für die Integration und Sprachförderung von geflüchteten Kindern gebe es bislang nicht, kritisiert Kerstin Kinner. "Sehen wir uns die Welt an, wird uns das Thema weiter begleiten", vermutet sie. "Zuerst kamen die Kinder aus Syrien und Afghanistan, jetzt aus der Ukraine." Es sei wichtig, dass es langfristig eine Struktur gäbe, um Kinder leichter zu integrieren.

Was tröstet?

Andrea Ipgefer hatte sich eigentlich als studentische Hilfskraft an einer Oberneulander Schule beworben. Als am Saatland Lehrkräfte fehlten, sprang sie auch dort ein. Damals hatte noch niemand mit einem Krieg in der Ukraine gerechnet, berichtet Kinner. Bis zum Sommer 2023 soll die Studentin voraussichtlich am Saatland bleiben. "Das Problem ist, das wir keine Lehrkräfte finden. Wir haben überhaupt keine Leute. Bildung hat bei uns einen sehr niedrigen Stellenwert. Daran zu drehen, wird die Herausforderung der Zukunft sein", sagt die Schulleiterin.

Andrea Ipgefer sei ein großes Glück. "Wir können froh sein, dass wir jemanden so Kompetentes und Charismatisches hier haben. Jemanden, der anpackt. Diese Menschen fehlen." Die Zusammenarbeit mit der Werkstudentin zeige: "Integration kann gelingen", sagt Kerstin Kinner. Und das sei in diesen Zeiten des Umbruchs, in denen mitten in Europa ein Krieg tobt, die tröstliche Nachricht.

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