Lesum. Die Tür steht nur kurz offen, schon schiebt ein kleiner Junge sein rotes Fahrrad in den Flur. Mit großen, braunen Augen guckt er Andreas Kalkosky an und zeigt auf die platten Fahrradreifen. „Ist das Ventil groß oder klein?“, fragt ihn der 58-Jährige, der gemeinsam mit vier Mitstreitern die Fahrradwerkstatt im Übergangswohnheim Am Rastplatz in Lesum betreibt. „Klein“, flüstert der Junge und montiert unter Anleitung den passenden Adapter auf das Ventil. Dann pumpt er behutsam, bis auf dem Display zwei Bar angezeigt werden. Draußen sausen derweil seine Spielkameraden mit ihren Rädern ums Haus.
„Die Kinder sind stolz, dass sie etwas selbst machen dürfen“, sagt Projektleiter Wolfgang Schröder. Das habe er aber auch schon bei den Jugendlichen beobachtet. Ursprünglich war die Fahrradwerkstatt der Willkommensinitiative nämlich auf dem Friedehorst-Gelände ansässig, wo 2016 rund 60 unbegleitete, geflüchtete Jugendliche lebten. „Das waren alles Jungs, die überwiegend aus Syrien kamen“, erzählt der 72-Jährige.
„Viele dieser Jugendlichen waren traumatisiert und ohne jeden Kontakt zur Familie“ ergänzt Andreas Kalokosky. Manche hätten mit der Zeit aber Vertrauen gefasst und erkannt, dass sich jemand für ihr Schicksal interessiert. „Diese Jungs haben dann auch bei der Reparatur der Räder geholfen“, so der 58-Jährige.
Im Mai 2018 ist das Wohnheim für Jugendliche aufgelöst worden. Und damit war die Fahrradwerkstatt der Willkommensinitiative heimatlos. Kurzfristig stand das Projekt vor dem Aus. Umso erleichterter waren die Ehrenamtlichen Sigi Bösche, Horst-Dieter Riedl, Karl-Heinz Beyer sowie Andreas Kolkosky und Wolfgang Schröder über ihr neues Domizil im Lesumer Übergangswohnheim Am Rastplatz. Hier leben nur Familien – insgesamt 230 Menschen. Sie sind bereits als Flüchtlinge anerkannt und suchen eine passende Wohnung.
Anfängliche Probleme gelöst
Anfangs haben wir einen Schreck gekriegt, als wir herkamen“, gesteht Wolfgang Schröder. „Überall aus dem Gelände lagen Berge von Fahrrädern. Kein Licht, keine Klingel, Plattfüße, defekte Mäntel, rissige Schläuche. Die Kinder hatten zwar fast alle ein Rad, aber die waren zu 90 Prozent kaputt.“ Nachmittags hätten deshalb zu viele Jungen und Mädchen vor der Werkstatttür gestanden. „Anfangs waren das so viele, dass wir die Räder lieber ohne die Kinder fertiggemacht haben, sagt der Projektleiter. Dadurch hätten die Jungen und Mädchen aber nicht zu schätzen gewusst, wie viel Arbeit darin steckt. „Sie sind ganz grob mit den Rädern umgegangen und eine Woche später waren die meisten wieder Schrott.“ Schröder: „Wir haben damals sogar überlegt, aufzuhören.“
Stattdessen hat das Team aber beschlossen, die Kinder mit einzubeziehen. „Jetzt müssen sie während der Reparatur zumindest dabei bleiben. „Dabei lernen sie die Arbeit wertzuschätzen. Jetzt geht es jedenfalls gesitteter zu, und es macht wieder Spaß. Solange Bedarf besteht, werden wir die Fahrradwerkstatt deshalb weiter machen“, versichert Schröder. Und die Kinder würden gleichzeitig Deutsch lernen. „Für anerkannte Flüchtlinge ist das ja wirklich nicht für die Katz.“
Wieder schaut ein Junge vorbei und fragt leise: „Wann krieg ich BMX?“ Er muss sich bis zum nächsten Tag gedulden, denn die Werkstatt ist nur dienstags und donnerstags von 15 bis 18 Uhr geöffnet. „Der Kleine hat hier schon viel gelernt, ist wissbegierig, fragt und hört zu“, sagt Wolfgang Schröder. Räder, die repariert wurden und neuen Besitzern übergeben werden, sind nummeriert und werden sorgsam registriert. Zudem wird pro Fahrrad je nach Wert eine Schutzgebühr von zehn bis 50 Euro erhoben.
Die Fahrradwerkstatt wird zudem aus Spendengeldern finanziert. So stiften beispielsweise 90 Prozent der Mitarbeiter von Arcelor-Mittal über die Initiative „Restcent“ vom Lohn alle Cent-Beträge hinter dem Komma für einen guten Zweck. Und die Firma legt den gleichen Betrag noch mal obendrauf. Davon profitiert auch das ehrenamtliche Team in Lesum.
Die Fahrräder sind gespendet. Viele werden als Ersatzteillager genutzt und komplett demontiert. „In Friedehorst haben wir über 100 Räder fertiggestellt, im Übergangswohnheim Rastplatz bisher etwa 80 Räder, sagt der Projektleiter. Gut funktioniere auch die Kooperation mit Radgeschäften. „Manche Ersatzteile bekommen wir dort sogar gratis.“ Die neue Werkstatt ist zwar weniger geräumig, aber die Männer sind froh, dass sie sich weiterhin gemeinsam um Flüchtlinge kümmern können. „Wenn die Türen offen stehen, strömen die Kinder rein“, freut sich der 65-jährige Sigi Bösche und ergänzt: „Ich kann Menschen helfen und lerne selbst noch was dazu.“