Gegen 22 Uhr wird es langsam dunkel, es ist windstill und schwül, und nur ein Drittel der Mondscheibe ist am Himmel zu sehen. „Das sind eigentlich optimale Bedingungen für den Nachtfalterfang“, sagt Sebastian Nennecke, Schmetterlingsexperte aus Bremen. Er ist von Haus aus Psychologe und befasst sich in seiner Freizeit intensiv mit Nachtfaltern.
In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt, dass es bei weitem mehr nachtaktive Falterarten gibt als unter den sogenannten Tagfaltern – eine Einteilung, die nur nach dem Verhalten der Tiere vorgenommen wurde, nach der zoologischen Systematik jedoch jeder Grundlage entbehrt. Zudem gibt es einige Nachtfalterarten, die tagaktiv sind. „Nachtfalter beginnen erst in der Dämmerung zu fliegen, und viele Arten sind nur zu ganz bestimmten Stunden der Nacht aktiv – wie zum Beispiel der Braune Bär, der erst nach Mitternacht in Erscheinung tritt“, sagt Sebastian Nennecke.
In die ausgedehnten Wiesen an der Lesum, in denen das Rohrglanzgras beträchtliche Höhen erreicht hat, haben sich Schilf, Feuchtgebüsche und hohe Stauden eingelagert – ein Mosaik, das ein großes Artenspektrum erwarten lässt: Denn unter den Nachtfaltern und Kleinschmetterlingen, von denen allein in Deutschland mehr als 3500 Arten, leben, sind viele Arten Pflanzenspezialisten: Ihre Raupen fressen zum Beispiel ausschließlich an Labkraut oder Brennnessel oder an bestimmten Gehölzen wie Weiden, Pappeln oder Weißdorn. Die Raupen der Schilfeulen zum Beispiel entwickeln sich nur im Innern der hohlen Halme von Schilf.
Um Nachtfalter zu erfassen, muss man sich spezieller Methoden bedienen: Sebastian Nennecke hat mehrere lange Schnüre in einer Rotwein-Zuckerlösung getränkt: „Der gegorene Wein lockt Falter auf große Entfernungen an. Und wenn man Glück hat, sitzen 40 bis 50 Schmetterlinge an einer Schnur“, sagt er. Die zweite Methode, um Falter der Nacht nachzuweisen, ist der sogenannte Lichtfang: Hinter einem fast zwei Meter hohen Turm aus Gaze verbergen sich Schwarzlicht- und superaktinische Leuchtstoffröhren. Im offenen Gelände exponiert, wirkt ein solcher „Leucht-Turm“ auf Nachtschmetterlinge wie ein Magnet.
Sebastian Nennecke hängt mehrere Köderschnüre, triefend von Rotwein, an Weiden, Weißdorn und Pappeln auf, dann installiert er die Leuchtanlage. Den Strom liefert eine Autobatterie. „Das ist für eine Person schon eine ziemliche Schlepperei“, sagt er. Und das ist sicherlich auch ein Grund, warum sich nur wenige Leute mit Nachtfaltern befassen. „Hinzu kommt, dass man sich viele Nächte um die Ohren schlagen muss, und der Anfänger ist angesichts der Artenfülle mit erheblichen Bestimmungsproblemen konfrontiert“, sagt Sebastian Nennecke.
Doch die Belohnung für die Mühe stellt sich ein, wenn die ersten Falter auf der Gaze oder an den Schnüren gelandet sind: filigrane Geschöpfe in meist dezenten Farben, die wie feinste Aquarelltöne ineinander verfließen oder zarte Grenzen bilden – wie bei den zwei Nessel-Schnabeleulen, die schon nach kurzer Zeit auf einer Köderschnur gelandet sind. Ihre verschwimmenden Muster aus braunen und grauen Linien auf den Flügeln tarnen sie hervorragend vor Feinden, wenn sie tagsüber auf Baumrinden oder im Gras sitzen.
Auf der Gaze des Turms landen zunächst nur unzählige Zuckmücken, Eintagsfliegen und auch mehrere Maikäfer. Dann trudeln die ersten Falter ein: schneeweiße Geschöpfe mit dichter Behaarung hinter dem Kopf, oder auch ein schmaler Falter mit weißen Linien auf rotbraunen Flügeln: ein Ampfer-Wurzelbohrer. Ein Perlglanz-Spanner in hellem Smaradgrün und eine Achat-Eule kommen hinzu – schon die Namen verraten, dass es auch unter Nachtfaltern auf den Flügeln schillern und schimmern kann, als wären sie mit winzigen Edelsteinen besetzt.
Mitternacht rückt näher, und Sebastian Nennecke hat rund ein Dutzend Nachtfalter-Arten notiert. Kurz bevor er den Leucht-Turm wieder abbaut, fliegt das Highlight der Nacht an: Ein großes Abend-Pfauenauge zeigt auf seinen Hinterflügeln große blaue Augenflecken. „Tagsüber sitzen die Tiere gut getarnt auf der Rinde von Bäumen. Doch wenn sie gestört werden, spreizen sie ruckartig ihre Flügel und die großen `Augen´ lassen Fressfeinde Reißaus nehmen“, sagt Sebastian Nennecke.