Auf einem Zweig sitzt ein Rotkehlchen und beäugt mit schief gelegtem Kopf die Gruppe, die sich auf dem Parkplatz versammelt hat. Unter dem Motto "Vogelzug im Werderland" hatte der NABU Bremen-Nord zu einem vogelkundlichen Spaziergang unter der Leitung von Kyra Behrje eingeladen. „Braucht noch jemand ein Fernglas?“ fragt Julia Riske, Leiterin der NABU-Geschäftsstelle Bremen-Nord. Doch die Teilnehmenden haben alle selbst Ferngläser mitgebracht. Bestens ausgerüstet, begibt sich die Gruppe auf den Ökopfad, der durch das Naturschutzgebiet führt.
Feuchtwiesen, Wassergräben, Bruchwald und das Ödlandgebiet bieten zahlreichen Vogelarten einen vielfältigen Lebensraum. Nicht nur den Vögeln, sondern auch vielen Insekten und einigen Säugetieren: Zwei Rehe ziehen im Morgenlicht über eine Wiese. Libellen schwirren über den Gräben und im Lesumbroker Sielgraben schwimmen vier Nutrias. Sie tauchen kurz ab, als ihnen eine achtköpfige Schwanenfamilie entgegenkommt. Die ehemaligen Küken sind schon so groß wie ihre Eltern, tragen aber noch immer das graue Jungvogel-Federkleid. Unter den Fernglas-Blicken der Vogelbeobachter steuern die Schwäne ans Ufer und ziehen im Gänsemarsch – beziehungsweise Schwanenmarsch – über die Wiese davon.
Kleine Vogelschwärme fliegen über die Gruppe hinweg. „Alle sind in Richtung Südwest unterwegs“, sagt Kyra Behrje. Die Zeit des Vogelzugs hat begonnen. Graugänse, Stare, Kraniche und einige andere Vogelarten verlassen im Herbst ihre Brutgebiete in Deutschland, um eine Reise in wärmere Gefilde anzutreten, wo sie mehr Nahrung finden. Andere Vögel wiederum – aus Skandinavien oder dem Baltikum kommend – überqueren hiesige Gefilde, rasten oder überwintern hier. Manche Vögel ziehen nachts und dadurch von den meisten Menschen unbemerkt, andere legen tagsüber weite Strecken zurück – in großen Schwärmen oder auch allein.
Pfeilstorch bringt Erkenntnisse
Bis ins 19. Jahrhundert war der herbstliche Vogelzug den Menschen ein großes Rätsel: Man hatte beobachtet, dass einige Vogelarten im Winter nicht mehr vor Ort waren, konnte sich aber nicht erklären, wo sie abgeblieben waren. Es gab kuriose Vermutungen, etwa, dass einige Vögel im Herbst im Moor versinken, auf dem Grund von Flüssen und Seen überwintern oder sich im Winter gar in Mäuse verwandeln. Ein sogenannter Pfeilstorch, so Kyra Behrje, brachte schließlich Licht ins Dunkel: Der Weißstorch war 1822 bei Klütz (Mecklenburg-Vorpommern) gefunden worden. Dem Vogel war ein Pfeil durch den Hals geschossen worden, wo er stecken geblieben war und den Storch erstaunlicherweise nicht am Weiterleben hinderte. Diesen Pfeil gab es in dieser Form nur in Afrika. Durch die Pfeilstörche – es gab mehrere Exemplare – konnte so der Vogelzug bis nach Afrika wissenschaftlich belegt werden. Heute kann er mithilfe von Beringung und Sendern exakt verfolgt werden.
Behrje zeigt auf einer Karte die Flugrouten verschiedener Zugvögel. Anhand eines vorüberfliegenden Starenschwarms erläutert sie die Flugstrategien einiger Vögel. So fliegen etwa Gänse und Kraniche in V-Formation, um Kraft zu sparen. Die Leitvögel an der Spitze erzeugen mit ihrem Flügelschlag einen Sog, der die nachfolgenden Vögel mitzieht. Da die Führungsposition auf langen Strecken anstrengend ist, wird der Leitvogel immer wieder von anderen im Schwarm abgelöst. Stare hingegen sind in einer scheinbar ungeordneten Wolke unterwegs; das macht es Greifvögeln schwer, sie zu erbeuten.
Die Vogelbeobachter haben Glück – bei schönem Herbstwetter sind allerlei Vögel im Werderland zu sehen, zum Beispiel Kormorane, Turmfalken, Zilpzalp, Mäusebussard, Wiesenpieper, mehrere Enten-Arten, Rohrammer, Baumfalke, Eichelhäher und Gimpel. Besonders gut sind im Grünland die schneeweißen Silberreiher zu erkennen. Sie sind etwa so groß wie Fisch- oder Graureiher, jedoch schlanker und erscheinen dadurch graziler als ihre grauen Kollegen. Immer wieder bleibt die Gruppe auf dem Ökopfad stehen, weil jemand einen Vogel entdeckt hat. Sofort schauen alle mit dem Fernglas in die angezeigte Richtung.
Weil das Wetter so gut ist und viele Vögel zu sehen sind, entscheidet sich die Gruppe spontan für die etwas längere Wegvariante. Eine gute Entscheidung, denn plötzlich kreist ein Seeadler am Himmel und lässt sich auf einer Fichte nieder. „Damit habe ich auch nicht gerechnet“, sagt Kyra Behrje. „Das ist ein Jungvogel, vielleicht von diesem Jahr“, vermutet sie aufgrund der dunklen Federfärbung. Als in seiner Nähe drei Mäusebussarde auftauchen, wird die beeindruckende Größe des Adlers im Vergleich zu den anderen Raubvögeln gut sichtbar. Auch die breiten, fast brettförmigen und im Segelflug horizontal gehaltenen Schwingen sind charakteristisch.
Seeadler wurden durch menschliche Verfolgung und Vergiftung durch das Insektizid DDT fast ausgerottet. Seit einigen Jahren nimmt der Bestand wieder zu. Die Gruppe ist beeindruckt von dem majestätischen Tier. Vergessen ist die leichte Enttäuschung darüber, dass sich der amtierende Vogel des Jahres nicht gezeigt hat: das Braunkehlchen, das auch im Werderland brütet. Julia Riske weist darauf hin, dass der NABU derzeit den Vogel des Jahres 2024 sucht. Noch bis Donnerstag, 5. Oktober, 11 Uhr, können alle Interessierten online abstimmen. Zur Wahl stehen Steinkauz, Kiebitz, Rauchschwalbe, Rebhuhn und Wespenbussard.