„Wir befinden uns im Wohnzimmer der Menschen“, sagt der Mann, der auf der Straße nur als „Cäsar“ bekannt ist, zu den um ihn stehenden Politikern und -innen des Beirates Findorff. Das Wohnzimmer ist in diesem Falle der Nelson-Mandela-Park – das Fleckchen Grün, das die prägnante Elefantenskulptur vorweisen kann. „Hier haben schon viele Menschen geschlafen. Wir sind bei Menschen zu Hause, wir wollen sie wertschätzen.“
Das wollen auch die Mitglieder des Beirates Findorff, sie möchten die Lebenssituation von wohnungs- und obdachlosen Menschen kennenlernen. Deshalb suchen sie zusammen mit „Cäsar“ und Stefan diverse Orte im Umkreis des Bremer Hauptbahnhofs auf – sie wollen wissen, wie und wo die Menschen dort leben.
Seit zehn Jahren arbeitet „Cäsar“ ehrenamtlich für die „Zeitung der Straße“. Die Zeitung bietet seit mehreren Jahren diese Soziale Stadtführung an, um auf die Lebensbedingungen von Menschen auf der Straße aufmerksam zu machen. Eigentlich heißt „Cäsar“ gar nicht Cäsar, doch auf der Straße hat jeder einen Spitznamen – also: „Cäsar.“ Ob Stefan auch ein Spitzname ist, wird nicht eindeutig beantwortet. Stefan hatte schon im Alter von sechs Jahren seine erste Alkoholvergiftung. Er kam ins Heim, nahm weitere Drogen. „Ich wollte die Realität vergessen“, sagt er. Nach dem Auszug aus dem Heim kam er an harte Drogen, Kokain und Heroin. „Der schwierigste Schritt war, Hilfe zuzulassen“, erzählt er. „Und ich habe Hilfe erfahren.“
Eine große Hilfe war auch der im Mai 2019 im Nelson-Mandela-Park am Antikolonialdenkmal eingeweihte Trinkwasserbrunnen. „Sauberes Wasser ist ein Menschenrecht, genauso wie das Wohnen. Heute wird hier im Nelson-Mandela-Park nicht mehr geschlafen“, sagt „Cäsar“. Ein paar Monate später seien im Rahmen des sogenannten Sicherheitsprogramms Bremer Hauptbahnhof Ordnungskräfte gekommen und hätten den dortigen Menschen 24 Stunden Zeit gegeben, den Park zu räumen. Exemplarisch seien die Habseligkeiten von zwei Menschen geschreddert worden. „Doch heute erobert sich die Szene den Raum zurück, zum Teil auch die Drogen- und Crackszene.“
Etwa 542.000 Wohnungslose gab es Mitte 2018 in Deutschland, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Davon rund 140.000 Wohnungslose im kommunalen und frei-gemeinnützigen Hilfesystem und etwa 402.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete in zentralen Gemeinschaftsunterkünften oder in dezentraler Unterbringung. Um die 50.000 Obdachlose gibt es nach „Cäsars“ Schätzung in Deutschland, von ihnen leben etwa 600 Menschen in Bremen. „Die werden wir heute nicht sehen, doch sie sind in der Stadt.“
Die erste Station des Rundgangs ist der Freiraum zwischen dem Bahnhofsgebäude und dem benachbarten Hotel. „Die größte Pinkelecke Bremens“, sagt „Cäsar“, „und das ist nur der Ort für das kleine Geschäft.“ Denn das Toilettenthema gestaltet sich für Obdachlose schwierig: Mit einem Euro ist man auf dem Bahnhofsklo dabei, sechs bis sieben Euro bräuchte man durchschnittlich pro Tag – zu viel für einen Menschen, der von Hartz IV leben muss. Und auch die sogenannte Nette Toilette ist für Obdachlose nicht wirklich geeignet: „Eine gute Sache, nur nach zwei- bis dreimaligem Benutzen werden Obdachlose der Gaststätte verwiesen.“ Wasch- und WC-Gelegenheiten müssten für Obdachlose geklärt werden, sagt „Cäsar“, fast in jeder Stadt gebe es dieses Problem.
Ein paar Schritte weiter steht der „Käfig“, wie er in der Szene genannt wird: „Die Politik hört das nicht gerne“, sagt „Cäsar“, „ich finde diesen Szenetreff unwürdig.“ Von morgens bis nachmittags hat der eingezäunte Bereich neben dem Hotel und der Fußgängerbrücke am Gustav-Deetjen-Tunnel geöffnet. „Die Leute der Szene haben Angst, hier zu sein, weil die Tür der einzige Zugang ist.“ Deshalb werde der Treff von der Szene auch nicht angenommen. „Was wir brauchen, sind Toleranzräume. Dazu gehören auch Drogenkonsumräume“, sagt „Cäsar“. In der Friedrich-Rauers-Straße gibt es einen solchen Raum, doch „Cäsar“ merkt an. „Wenn ich meinen Lebensmittelpunkt am Bahnhof habe, laufe ich nicht dorthin. Und Crackabhängige gehen dort gar nicht hin.“
Weiter geht es, vorbei an der Fachstelle Wohnen im Tivoli-Hochhaus. Dort gibt es Beratung, zudem können Schlichtwohnungen und Unterkünfte vermittelt werden. „Osteuropäer bekommen diesen Service nicht, sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen“, erzählt „Cäsar“. „Diese Menschen gehen dann mitunter auf den Arbeiterstrich, arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Logistik und erhalten oft nur drei bis vier Euro pro Stunde. Zu wenig für eine Wohnung, sodass einige von diesen Menschen in einem Mehrbettzimmer unterkommen müssen. Zehn bis 15 Euro kostet das pro Nacht. Einige dieser Leute tun sich dann zusammen und kaufen ein Schrottauto. Darin leben dann drei bis vier Leute. Einige haben nicht mal das. Die betteln dann.“
Ebenfalls im Tivoli-Hochhaus ist mit „Comeback“ ein Kontakt- und Beratungszentrum vertreten. Etwa 6000 Nutzer illegaler Drogen gibt es nach „Cäsars“ Einschätzung in Bremen, ein paar von ihnen stehen gerade unter dem Vordach, gleich neben dem Eingang der Diskothek Shagall. Dort ist auch „Comeback“, dort gibt es frische Spritzen, Beratung und ein kleines Café. Auf der anderen Straßenseite geht die Discomeile weiter. Nicht weit entfernt ist der Verein Hoppenbank, der im Fedelhören 24 Einzelzimmer zur Verfügung stellen kann – für Straffällige, die entlassen wurden. „Straffällige geraten häufig in die Obdachlosigkeit. Viele scheitern an einer Hausordnung oder an der Mülltrennung“, sagt „Cäsar“. Auch eine Notunterkunft für Frauen befindet sich in der Nähe. Etwa 25 bis 30 Prozent der Obdachlosen sollen Frauen sein: „Nur sieht man sie nicht so“, erzählt „Cäsar“, „Obdachlosigkeit ist schambesetzt bei Frauen. Und nachts sind sie oft sexueller Gewalt ausgesetzt.“ Viele dieser Frauen würden sich für Schlafplätze prostituieren.
Hinter der Diskothek Stubu schlafen ebenfalls Obdachlose. „Cäsar“ berichtet von Partygängern, die sich einen Spaß daraus machen, im Vorbeigehen gegen den Schlafsack zu treten. Außerdem würden die Obdachlosen angeschrien, angespuckt, angegriffen oder auch mal Schlafsäcke angezündet. „Obdachlose berichten, dass andere Menschen das gesehen, aber nicht eingegriffen haben“, sagt „Cäsar“. Teilweise würden solche Übergriffe gefilmt und ins Netz gestellt. Überhaupt sind schlafende Obdachlose häufig nicht gern gesehen. Sie werden schon mal mit Wasser bespritzt, es wird laut Musik gespielt oder es werden spitze Metalldornen im Boden verankert, damit Obdachlose dort nicht liegen können.
Die letzte Station ist das Café Papagei, wo geduscht werden kann und wo auch Frühstück oder Mittagessen ausgegeben wird. Dort haben 450 Obdachlose ihre Postadresse, damit sie von Behörden erreicht werden können. „Auch der Postbarscheck kommt dorthin“, erzählt „Cäsar“. Allerdings gebe es seiner Meinung nach eine Ungerechtigkeit. „Das Einlösen des Schecks kostet fünf Euro.“