Findorff. Angst um den Arbeitsplatz, finanzielle Einbußen, Kontaktbeschränkungen, die permanente oder wiederkehrende Schließung von Kitas, Schulen, Sport- und Freizeiteinrichtungen: Dies alles sind Stressfaktoren, die Beziehungen und den Familienalltag belasten. Die aktuelle Polizeistatistik verzeichnet eine deutliche Zunahme von Fällen häuslicher Gewalt in den Monaten der Pandemie. Es gibt Beratung, Hilfe, Zufluchtsorte für Betroffene – aber nicht für alle. Und es wird zunehmend schwieriger, längerfristige therapeutische Begleitung und Unterstützung zu finden. Soweit der Stand der Dinge, den der Findorffer Sozialausschuss von denjenigen hörte, die tagtäglich mit den Opfern zu tun haben. In Findorff sei es dabei nicht anders als in anderen Teilen der Stadt, hieß es.
Einen „bedrückenden“ Anstieg von 15,8 Prozent bei den Fällen häuslicher Gewalt konstatierte Innensenator Ulrich Mäurer bei der Vorstellung der Bremer Kriminalstatistik des Jahres 2020 im März. Nicht verwunderlich, kommentierte Silke Ladewig-Makosch aus der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF): „Es wäre seltsam, wenn es nicht so wäre. Wir merken ja alle, dass wir erschöpft sind.“, so die Referentin der Bremer Landesfrauenbeauftragten. Die Zahlen seien indes nur bedingt aussagekräftig, so Ladewig-Makosch – einerseits, weil Experten von einem „Dunkelfeld“ von bis zu 70 Prozent an nicht gemeldeten Fällen ausgehen, und man wisse, dass viele Opfer familiärer Gewalt die Situation zunächst lange Zeit still ertragen.
Definition der Gewalt erweitert
Mitunter vergingen Jahre, bis sie Hilfe suchten und in Anspruch nähmen, so die Leiterin des Referats Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Auf der anderen Seite sei ein Vergleich mit den Vorjahren schwierig, weil das Bundeskriminalamt die Definition von häuslicher Gewalt erweitert habe. In die Statistik des so genannten Lagebilds Partnerschaftsgewalt fließen nun auch Fälle ein, in die „Familie einschließlich Angehörige“ involviert sind.
Ein Indiz für die zunehmende Gewalt gegen Frauen seien die Frauenhäuser, deren Plätze – zwar bereits zu Pandemiebeginn deutlich aufgestockt – permanent voll belegt seien. „Extrem viel Gewalt“ erlebten Frauen, die drogenabhängig seien, psychisch krank oder wohnungslos. Die „traurige Wahrheit“ sei – so Ladewig-Makosch – dass genau diese Gruppen vom Hilfesystem nicht aufgefangen würden – ebenso wie Frauen aus osteuropäischen Ländern, die einen Weg aus der Prostitution suchten. Die Akteure des bremischen Hilfe- und Unterstützungssystems arbeiten zurzeit an einem Landesaktionsplan zur Umsetzung der Istanbuler Konvention, in der sich der Europarat zu einem gemeinsamen Vorgehen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verständigte. In diesem Rahmen sei man sehr daran interessiert, barrierefreie und niedrigschwellige – auch aufsuchende – Angebote in den Stadtteilen zu schaffen, so Ladewig-Makosch.
Häusliche Gewalt – in ihrer körperlichen oder psychischen Form - betrifft nicht nur Frauen und Mädchen. Von „mehr Telefonberatungen als jemals zuvor“ berichtete Alex Sott aus dem Beratungsteam des Bremer Jungenbüro. Rund ein Drittel bis ein Viertel der rat- und hilfesuchenden Jungen und jungen Erwachsenen erlebten „Gewalt im Familienkontext“, so der Sozialpädagoge. „Der größte Bereich betrifft dabei sexualisierte Gewalt“. Auffällig sei auch die Häufung der Meldungen etwa aus Kitas und Schulen, sagte Jana Rump, Leiterin des Kinderschutzzentrums Bremen. Nach einer Zeit, in der die Fachkräfte die Kinder wegen des Lockdown nicht sehen konnten, „merken sie: Da hat sich etwas verändert.“
Der Findorffer Sozialausschuss wollte wissen, ob dieser bedenkliche Trend auch im Stadtteil beobachtet wird. Ohne die nach Tatorten aufgeschlüsselten Daten parat zu haben, sei davon auszugehen, dass es hier nicht anders sei als anderswo, so Janina Bauch, Familientherapeutin der Beratungsstelle „Neue Wege – Wege aus der Beziehungsgewalt“: „Gewalt kennt keinen Stadtteil.“
Hilfe bei Gewalterfahrungen
„Gewalt ist nie in Ordnung“ lautet die Ansage in einer umfangreichen Broschüre, die die Bremer Landesfrauenbeauftragte in Kooperation mit dem Bremer Arbeitskreis „Gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ zusammengestellt hat. Auf mehr als 50 Seiten wird systematisch und verständlich erklärt, die Einrichtungen und Ansprechpersonen bei Gewalterfahrungen zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit weiterhelfen können. Der Ratgeber „Hilfe bei Gewalt“ kann als Download auf der Internetseite www.gewaltgegenfrauen.bremen.de – auch in anderen Sprachen – heruntergeladen werden. Unter derselben Adresse findet sich auch ein Telefonverzeichnis mit den wichtigsten Notfallnummern.