Ein Dienstagvormittag in Gröpelingen. Auf dem Gelände des Stiftungsdorfes der Bremer Heimstiftung sind von irgendwo her Kinderstimmen zu hören. Am großen Tisch im Gemeinschaftsraum sitzen zwei Frauen und gehen nacheinander mehrere Anschreiben und Papiere durch, die die jüngere der beiden zuvor aus ihrer Handtasche gezogen hat. Die Frauen, die sich angeregt auf Bulgarisch unterhalten, wirken vertraut. Tatsächlich kennen sie sich inzwischen seit mehr als vier Jahren – seit einer von ihnen klar wurde, dass sie dringend Hilfe braucht.
Diese fand sie bei ihrem Gegenüber: Elif Patarla ist immer dienstags im Zentrum für Migranten und Interkulturelle Studien (ZIS) an der Gröpelinger Heerstraße erreichbar. Seit sechs Jahren leitet sie dort das Projekt „Familienkompass“, das Menschen aus Bulgarien dabei unterstützt, in Gröpelingen anzukommen und sich dort gut zurechtzufinden. „Ich spreche Bulgarisch, Russisch und Türkisch und kann deshalb eher rausfinden, was Familien brauchen und wie ich sie unterstützen kann“, erzählt die gelernte Bürokauffrau, die eine Schulung zur Gesundheitsmediatorin und verschiedene andere Fortbildungen absolviert hat. Sie bietet Familien Orientierungshilfen zu den Kitas, Schulen und Sport- und Freizeiteinrichtungen im Stadtteil an, vermittelt bei Fragen zu Erziehung oder Ernährung Kontakte zu entsprechenden Anlaufstellen und weist auf Vorsorgeuntersuchungen, Angebote und Kurse im Stadtteil hin.
Was tun in einem fremden Land?
Als vor etwas mehr als vier Jahren bei ihrem zweiten Kind Autismus diagnostiziert wurde, sei dies für sie eine schwere Zeit gewesen, erzählt die 41-Jährige, die an diesem Tag zu Patarla gekommen ist und ihren Rat zu einer anstehenden Zahn-OP bei ihrem Kind sucht. „Es war schwierig für mich, Autismus überhaupt zu verstehen. Ich habe mich gefragt: Warum ich?“ Damals drückte ihr jemand Patarlas Telefonnummer in die Hand. „Das Vertrauen war sofort da – ich habe ihr blind vertraut. Und je mehr ich das Thema Autismus dann verstanden habe, umso mehr konnte ich es annehmen.“
Patarla stellte Kontakt zum Autismus-Therapiezentrum her, begleitete die Familie zu verschiedenen Ärzten und half, passende Therapieangebote zu finden und die dafür notwendigen Anträge auszufüllen. Sie sei für das Projekt sehr dankbar, sagt die zweifache Mutter: „Wenn man in einem fremden Land ist, die Sprache nicht kennt und dann Probleme mit seinem Kind hat, kann man sich nicht erklären. Für uns ist es eine große Erleichterung, dass wir Elif haben. Sie ist für mich wie eine Mutter, der ich alles erzählen kann. Und sie hat mir geholfen, Selbstvertrauen aufzubauen. Wir können ganz offen mit ihr unsere Probleme aber auch unsere Freude teilen.“
Ohne Vertrauen geht es nicht
Das Kind, das inzwischen eine Waller Grundschule besucht, habe schon tolle Fortschritte gemacht, erzählt Patarla. Aktuell unterstützt sie sieben bulgarische Familien mit autistischen Kindern, die sich auch regelmäßig untereinander austauschen: „Ich bin in Kontakt mit Förderpädagogen und bei wichtigen Terminen im Gesundheitsamt, in der Schule oder beim Sozialdienst dabei und unterstütze die Familien dabei, gute Wege für sich zu finden.“ Die wichtigste Voraussetzung dafür sei Vertrauen. „Denn die Angst vor Behörden sitzt oft tief. Um zum Beispiel eine Familie davon zu überzeugen, mit dem Amt für soziale Dienste zusammenzuarbeiten, braucht es viel Vertrauen. Denn es gibt aufgrund von kursierenden Gerüchten und Geschichten oft die Angst, dass die Kinder weggenommen werden. Oder wenn zum Beispiel ein Kind Förderbedarf hat, braucht man für entsprechende Maßnahmen die Unterschrift der Eltern. Dafür muss ich ihnen erklären, wie die Förderung funktioniert und dass das gut für ihr Kind ist.“ Aus Kitas, Schulen und Behörden bekommt Patarla dazu positive Rückmeldungen. „Das erleichtert ja auch die Arbeit der Erzieherinnen, Pädagogen und Behördenmitarbeiter.“
Unterschiedliche Schicksale kennengelernt
Oft kommen ratsuchende Menschen mit Post zum Beispiel von Krankenkassen, Behörden oder auch Inkassofirmen zu ihr: Was bedeutet das? Was soll ich machen? Als Allererstes schaue sie jeweils nach, ob Termine und Fristen eingehalten werden müssen, erzählt Elif Patarla. „Denn manchmal muss man ja schnell reagieren. Ansonsten vermittele ich die Leute an Beratungsstellen weiter.“ Mit den unterschiedlichsten Schicksalen ist Patarla im Laufe der Jahre in Berührung gekommen. Für einen jungen Mann hat sie einmal spontan eine Spendenaktion organisiert. „Sein Vater, der aus Bulgarien zu Besuch war, starb überraschend. Das Problem: Er war nicht krankenversichert.“ Die Wahl-Gröpelingerin kann sich gut in die Situation der Menschen einfühlen, die sich an sie wenden. Sie erinnert sich noch an das Jahr 2007, in dem sie nach Deutschland kam: „Auf dem Spielplatz hier in Gröpelingen wurde Türkisch gesprochen – das war die erste Sprache, die ich hier verstehen konnte.“
Über einen Deutschkursus kam sie bald darauf mit dem ZIS in Kontakt, bei dem sie seit nunmehr sechs Jahren den Familienkompass anbietet. „Wir haben etwa ab dem Jahr 2010 durch unsere Sprachkurse gemerkt, dass es einen riesigen Bedarf an Beratung und Unterstützung gibt“, erzählt die ehemalige ZIS-Geschäftsführerin Gudrun Münchmeyer-Elis, die das über das Förderprogramm „Wohnen in Nachbarschaften“ (Win) finanzierte Projekt seinerzeit mit Patarla auf den Weg gebracht hat. Was dieses Projekt Patarlas Ansicht nach im Kern ausmacht? „Die Niedrigschwelligkeit. Es gibt ja viele Beratungsstellen – aber für viele ist dieser Behördenstil nicht gut verständlich. Eine niedrigschwellige Kommunikation, zum Beispiel auch per Whatsapp, ist ganz wichtig.“