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Ernährungsarmut und die Folgen Experte Martin Rücker: "Das setzt eine Armutsspirale in Gang"

Deutschland nimmt Ernährungsarmut in Kauf, sagt Fachjournalist Martin Rücker. Wie fehlende finanzielle Möglichkeiten für ausgewogene Ernährung auch die Zukunftschancen von Kindern beeinflussen.
19.02.2025, 05:00 Uhr
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Experte Martin Rücker:
Von Lisa Duncan

Herr Rücker, wie sehr hängt gesunde Ernährung auch in Deutschland vom Geldbeutel ab?

Martin Rücker: Da gibt es einen sehr starken Zusammenhang, der oft unterschätzt wird. Eine ausgewogene Ernährung, die nicht nur satt macht, sondern auch genügend Vitamine und Mineralstoffe beinhaltet, kostet erwiesenermaßen deutlich mehr Geld als eine besonders energiedichte Nahrung. Man kann das einfach vergleichen: Eine Packung Nudeln macht schnell und günstig satt, hat aber kaum Nährstoffe. Wenn man frisches Obst, frisches Gemüse dazu besorgt, dann hat man gleich sehr viel höhere Kosten.

Was ist das Fatale daran, wenn das Geld für eine gesunde Ernährung nicht reicht?

Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens drei Millionen Menschen in Deutschland in Ernährungsarmut leben, das heißt, dass sie nicht die finanzielle Möglichkeit haben, sich ausgewogen zu ernähren. Insbesondere für Kinder ist das ein massives Problem, weil die Ernährung im sogenannten Tausend-Tages-Fenster – das ist die Zeit ab Beginn der Schwangerschaft bis zum zweiten Geburtstag – besonders prägend ist. Wenn es in diesem Zeitraum an wichtigen Nährstoffen fehlt, kann dies die Entwicklung sowohl körperlich wie geistig hemmen. Kinder können das ein Leben lang nicht mehr aufholen. Ernährungsarmut setzt dadurch eine Armutsspirale in Gang: Wenn Menschen in Armut leben und deshalb nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, ihre Kinder ausgewogen zu ernähren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder später selbst in Armut leben werden. Weil sie in ihrer Entwicklung zurück sind, weniger Chancen haben auf Bildungserfolge, auf hohe Abschlüsse und entsprechende berufliche Perspektiven.

Das klingt ja ziemlich weitreichend. Wie lange sind diese Zusammenhänge bereits bekannt?

Das Problem ist in der Wissenschaft schon lange bekannt und oft beschrieben. Wir wollen das nicht wahrhaben. Deutschland ist ein so reiches Land, dass es Ernährungsarmut und Hunger nicht geben darf. Mittlerweile ist auch sehr gut belegt, dass die Sozialleistungen nicht ausreichend berechnet sind, um eine gesunde Ernährung zu ermöglichen. Wir haben ein staatliches Armutsförderungsprogramm, weil wir Menschen in Armut nicht genügend Geld zur Verfügung stellen, um sich und insbesondere ihre Kinder gesund ernähren zu können. Das ist übrigens keine Luxusdebatte, sondern ein Verstoß gegen ein zentrales Menschenrecht. Denn das Recht auf Nahrung bedeutet nicht nur, dass jeder satt wird, sondern, dass jeder sich eine gesundheitsfördernde Nahrung leisten kann. Das ist in Deutschland nicht verwirklicht.

Sie beschreiben, dass der Landwirtschaftsminister Cem Özdemir schon lange diese sozialen Aspekte als Teil der Ernährungsstrategie der Bundesregierung angesprochen hat. Aber bisher ist nichts umgesetzt worden. Woran liegt das?

Cem Özdemir hat als erster Bundesminister überhaupt angesprochen, dass es Ernährungsarmut in Deutschland gibt, und auch konkrete Vorschläge gemacht. Er wollte genauer erforschen und monitoren, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, wie es um ihren Gesundheitszustand steht. Und er wollte verbindliche Maßnahmen ergreifen, die Ernährungsarmut in Deutschland innerhalb der nächsten Jahre praktisch abschaffen würden. Damit hat er sich nicht durchgesetzt. Insbesondere das Bundessozialministerium von Hubertus Heil hat sich dagegen verwehrt und alle verbindlichen Maßnahmen abgelehnt. Ich habe recherchiert, dass das Ministerium sogar ein Gutachten bezahlte, in dem Wissenschaftler errechnet haben, wie viel eine gesunde Ernährung für Kinder kostet. Dieses Gutachten zeigt, dass die tatsächlichen Kosten über dem liegen, was im Bürgergeld für die Ernährung von Kindern und vor allem Jugendlichen vorgesehen ist. Das Gutachten liegt seit anderthalb Jahren im Ministerium in der Schublade und ist nie veröffentlicht worden.

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Da gewinnt man den Eindruck, dass ein bestimmter Bereich der Gesellschaft gar nicht unterstützt werden soll. Oder ist es einfach zu teuer?

Ich glaube, dass zwei Dinge da eine Rolle spielen. Einerseits diese Ungläubigkeit, dass es Ernährungsarmut in einem reichen Land gibt. Das ist etwas, was wir mit Ländern des globalen Südens verbinden, aber nicht mit dem reichen Deutschland. Man verschließt die Augen vor einer unbequemen Wahrheit. Das zweite ist, dass Maßnahmen natürlich mit Kosten verbunden sind. In politischen Diskussionen ist es extrem unpopulär, über höhere Sozialabgaben zu sprechen – die wären aber geboten, weil wir menschenrechtlich dazu verpflichtet sind und weil wir armutsbetroffenen Kindern Zukunftschancen ermöglichen wollen. Würde man das Problem anerkennen, wäre das in Zeiten eines knappen Bundeshaushalts politisch eine ganz schwierige Diskussion. Das führt wohl dazu, dass man sich dem Ganzen nicht stellen möchte.

Wie begründet das Sozialministerium den Umstand, dass keine konkreten Maßnahmen gegen Ernährungsarmut ergriffen werden?

Die offizielle Begründung lautet, dass es Ernährungsarmut nicht gibt. Das sehen Wissenschaftler entschieden anders. Richtig ist zwar, dass den Menschen nicht vorgeschrieben ist, welchen Anteil ihrer Sozialleistungen sie für Essen ausgeben. Allerdings wird bei der Berechnung der Höhe des Bürgergeldes natürlich ein bestimmter Betrag für Nahrungsmittel einkalkuliert – und wer mehr ausgibt, dem fehlt es dann eben an anderer Stelle. Entscheidend ist: Bei der Berechnung des Bürgergelds wird alle fünf Jahre einmal geschaut, wie viel Geld einkommensschwache Haushalte tatsächlich für Ernährung ausgeben. Damit müssen dann Bürgergeldbeziehende klarkommen – dass diese Beträge aber für eine gesunde Ernährung überhaupt nicht reichen, spielt in der Berechnungsgrundlage keine Rolle.

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Deswegen müsste man eigentlich die Berechnungsgrundlage ändern.

Wenn wir das Recht auf Nahrung ernst meinen, müsste man in der Tat berechnen, wie viel Geld Menschen brauchen, damit sie sich ausgewogen ernähren können, und ihnen dieses Budget garantieren. Das ist aber im Moment nicht der Fall. Wenn Studien dann nachträglich feststellen: Das Geld hat nicht ausgereicht, ist die jüngste Berechnung schon wieder ein paar Jahre her und dann sagt das Ministerium: Wir wissen ja gar nicht, wie es aktuell aussieht. Und so redet man sich immer heraus und stellt sich nicht diesem Thema.

Inwiefern kann man mit Veranstaltungen wie der Fachtagung "Gesund und nachhaltig – gutes Essen in Gröpelingen" etwas beim Thema Ernährungsarmut in Deutschland bewegen?

Ein Bewusstsein dafür, welche große Rolle Ernährung für die gesunde Entwicklung von Kindern spielt, ist wichtig. Ansonsten muss aber die Lösung eine politische sein. Und dafür sind solche Veranstaltungen hilfreich, weil sie das Bewusstsein für ein politisch wirklich unterschätztes Problem in Deutschland wecken können und daraus vielleicht eines Tages der Handlungsdruck entsteht, der die Politik bewegt, anders auf dieses Thema zu schauen.

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Zur Person

Martin Rücker

ist Investigativjournalist, war Geschäftsführer von Foodwatch-Deutschland und ist Autor des Buches "Ihr macht uns krank – Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby".

Zur Sache

Am 20. Februar findet von 9.30 bis 15 Uhr im Nachbarschaftshaus Helene Kaisen in Göpelingen die Fachtagung "Gesund und nachhaltig – gutes Essen in Gröpelingen" statt, bei der auch Martin Rücker sprechen wird.

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