Wer wäre in Zeiten wie diesen nicht dankbar über gute Nachrichten? Bei Postbotin Paula ist gar nichts anderes zu erwarten. Die Gröpelinger Briefzustellerin hatte irgendwann genug von missmutigen, enttäuschten oder verärgerten Gesichtern, und überlässt seitdem Rechnungen, furchteinflößende Behördenschreiben und alles andere an unwillkommenen Depeschen ihrem Kollegen Helmut. Zurzeit kann Paula in ihrem Bezirk folgende erfreuliche Information verbreiten: Die Gröpelinger Feuerspuren liefen richtig gut. Straße, Plätze und Häuser waren voller bestens gelaunter Menschen, die Veranstalter und alle Beteiligten sind hochzufrieden.
Es war, als hätten alle nur darauf gewartet, wieder unter Menschen zu kommen. Und ungefähr so formuliert auch Christiane Gartner ihr Fazit des Wochenendes. „Die Resonanz hat gezeigt, dass es eine tiefe Sehnsucht gibt, einander zu begegnen“, erklärt die Geschäftsführerin von Kultur vor Ort.
Die Vorzeichen waren zwar ermutigend, „die Vorbereitungskurse waren voll belegt, die 200 Tickets für die Lange Nacht des Erzählens waren schon lange vor dem Termin ausverkauft“, sagt Gartner. Komplett sicher sein über den Zuspruch konnte man sich dennoch nicht. Zwei Jahre lang hatten auch für das große Gröpelinger Erzählfestival Sonderbedingungen geherrscht. Ganz wie gewohnt waren die Feuerspuren zuletzt im Jahr 2019 gefeiert worden – als noch niemand sich in den kühnsten Albträumen denken konnte, was der Welt einige Monate später bevorstehen würde.
Im Jahr 2020 fiel das Festival der Pandemie komplett zum Opfer, 2021 fand es überwiegend im digitalen Raum statt. Die Rückkehr auf die Straße hatte man in aller gebotenen Vorsicht geplant. So war die traditionelle Auftaktveranstaltung am Vorabend sicherheitshalber nicht im Lichthaus platziert.
Stattdessen traf man sich in der Stadtbibliothek West, um dann in vier Gruppen in die Gröpelinger Nacht zu ziehen – verbunden über Kopfhörer mit den Erzählerinnen und Erzählern Martin Ellrodt, Julia Klein, Luise Gündel und Mirjam Dirks – alias Postbotin Paula.
Zauberhafte Überraschungen
Das Motto der Feuerspuren 2022 lautete „Einsteigen, Umsteigen, Aussteigen“ – und das taten tatsächlich auch die Passagiere der „Langen Nacht des Reisens“ zwischen zwei Straßenbahnhaltestellen. Auf dem Weg begegneten ihnen zauberhafte Überraschungen – Kirchenkronleuchter, die in mächtigen Bäumen hingen und dort ihr magisches Licht verbreiteten, Schattenspiele auf Häuserwänden, ein ebenso stimmungsvolles wie kleines Konzert auf dem Gröpelinger Marktplatz. Wer dabei war, kam aus dem Schwärmen nicht heraus.
Der Anblick der Karawanen, deren Stille nur immer wieder durch ein unerklärliches Gelächter oder Laute des Erstaunens unterbrochen wurde, sorgte im Stadtteil für erstaunlich wenig Aufsehen. „Mit unseren leuchtenden Kopfhörern sahen wir aus wie Aliens“, erzählt Teilnehmer Marco Holmer. „Aber die Leute nickten uns zu und grüßten, als ob das alles ganz selbstverständlich und normal wäre“, so der gebürtige Niederländer.
„So ist Gröpelingen. Richtig schön.“ Die „warmherzige, entspannte Stimmung“ wird Julia Klein in Erinnerung bleiben. Die professionelle Bremer „Geschichtenhändlerin“ und künstlerische Leiterin der Feuerspuren berichtete von vielen Menschen, die noch lange nach der Rückkehr auf den Bibliotheksplatz das Beisammensein bei Wein und Börek genossen.
Am Sonntagnachmittag duftete die Lindenhofstraße nach Popcorn und Schmalzkuchen, frisch gegrillten Fleischküchlein und asiatischer Streetfood, Tee und Kaffee, die vor vielen Eingängen der ansässigen Geschäfte und Institutionen feilgeboten wurden: Gastfreundlichkeit mit vielen Aromen.
Es begann mit einem Laternelauf
Die Feuerspuren entstanden 1995 als Laternelauf durch den Stadtteil, entwickelten sich rasch zum Licht- und Musikumzug mit spektakulären selbstgefertigten Lampions und Leuchtobjekten und wurden 2007, initiiert und organisiert von Kultur vor Ort und dem Bürgerhaus Oslebshausen, zum internationalen Erzählfestival, das Tausende anzieht. Gartner wundert das nicht: „Das persönliche Erzählen erreicht und berührt die Menschen. Es gibt eine Interaktion, man ist mittendrin. Beim eindimensionalen Konsumieren. Durch Medien gibt es das nicht.“
Charakteristisch für die Gröpelinger Feuerspuren sind auch ihre nicht alltäglichen Erzählorte. Waschsalon, Fahrrad- und Elektrogeschäft, Second-Hand-Laden, Weinhandlung, Moschee und Nagelstudio verwandeln sich einen Tag lang in ungewöhnliche Hörsäle.
Ein einziges Mal im Jahr gibt es auch die Gelegenheit, echt Gröpelinger Stallgeruch zu schnuppern, wenn Landwirt Oltmann Gäbel seinen Bauernhof für die Gäste öffnet. Wer ein Plätzchen ergattern wollte, musste frühzeitig kommen. Erzählt wurden völlig erfundene, fantastische, skurrile Stories vom Unterwegs-Sein – sehr häufig aber auch biografisch geprägte Geschichten von Lebenswegen. Hier braucht es gar kein Ticket und kein Kofferpacken, um andere Kulturen und andere Menschen kennenzulernen, so die Postbotin: „Ihr müsst doch eigentlich gar nicht verreisen. In Gröpelingen habt ihr die ganze Welt.“