Deutschlands Ärzte haben die Situation in sozial benachteiligten Quartieren zunehmend im Blick: Dieses positive Signal hat Bremens Ärztekammerpräsident Johannes Grundmann vom 126. Deutschen Ärztetag mitgenommen, der Ende Mai in Bremen stattfand.
Eine Woche lang wurde in der ÖVB-Arena über Gesundheitspolitik gesprochen, etwa 2000 Besucherinnen und Besucher aus ganz Deutschland waren vor Ort, und es wurde eine Reihe von gesundheits-, sozial- und berufspolitischen Beschlüssen gefasst. Einer davon zielt auf eine ganzheitliche Planung der Gesundheitsversorgung ab und dokumentiert somit einen Perspektivwechsel: Es geht nicht mehr ausschließlich um die Behandlung von Krankheiten, sondern vielmehr auch um die soziale, seelische und psychische Situation der Patienten. In dem Beschluss heißt es: „Der Gesundheitsprävention wird in einem Gesundheitswesen, das finanziell auf Kante genäht ist, zu wenig Bedeutung beigemessen.“
Dies dürfte ganz im Sinne von Bremens Ärztekammerpräsident Johannes Grundmann sein, der mehr als 30 Jahre lang als Hausarzt mit eigener Praxis am Pastorenweg tätig war und die Situation der Menschen – und der Medizinerinnen und Mediziner – in sozial schwächeren Stadtteilen gut kennt. „Sprachbarrieren erschweren die diagnostische und therapeutische Arbeit der Ärztinnen und Ärzte und der anderen Gesundheitsberufe. Gleiches gilt für das Angebot von präventiven und sozialen Maßnahmen“, sagt er. Gleichzeitig gilt: Der allgemeine Gesundheitszustand in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist schlechter und viele Risikofaktoren, Beschwerden und Krankheiten treten verstärkt auf. Stichwort: Armut macht krank.
Diese komplexe Gesamtsituation wiederum schreckt womöglich junge Ärzte ab, die sich niederlassen möchten – am liebsten in einem Umfeld, in dem die Arbeitsbedingungen so angenehm wie möglich sind. Das macht die Nachfolgersuche in Stadtteilen wie Gröpelingen schwierig, wie Grundmann aus eigener Erfahrung weiß. Ihm selbst gelang es vor einigen Jahren, Nachfolger für den Stadtteil zu begeistern. Er kennt aber auch Praxen, die schließen mussten: „In Gröpelingen gibt es inzwischen keinen einzigen Urologen mehr – und auch keinen Lungenarzt.“ Es gibt also dringenden Handlungsbedarf.
Um Fachpersonal für sogenannte schwierige Quartiere zu gewinnen und die medizinische Versorgung dort zu verbessern, empfehlen Experten einen interdisziplinären Ansatz, wie er nun auch beim Gröpelinger Modellprojekt „Lokales integriertes Gesundheitszentrum für Alle“ (Liga) verfolgt wird: Das Liga soll ein zentraler Treffpunkt zu allen Gesundheitsfragen im Quartier werden. Dort sind Haus- und Kinderarzt, Psychotherapeut, Hebamme, Physio- und Ergotherapiepraxis, psychosoziale Beratungsstelle, Selbsthilfegruppen und Pflegestützpunkt unter einem Dach zu finden. Grundmann hat seinen Kolleginnen und Kollegen Liga im Juni 2021 in einem Ärzteblatt-Artikel vorgestellt: „Da gab es ganz viel Zustimmung.“
In anderen Städten gibt es vergleichbare Projekte. Helmut Zachau, stellvertretender Vorsitzender des Liga-Trägervereins, verweist auf die Hamburger Poliklinik Veddel, die seit fünf Jahren als Stadtteilgesundheitszentrum in einer ebenfalls sozial schwachen Gegend erfolgreich arbeitet. Als Vorbild für das Liga nennt Zachau außerdem das im Februar in Berlin-Neukölln eröffnete Stadtteil-Gesundheitszentrum. Weil prekäre Lebenssituationen krank machen, kümmert sich das Team dort nicht nur um Symptome, sondern auch um die Ursachen. Zum Beispiel um finanzielle Sorgen, Probleme mit Behörden und Jobcenter oder familiäre Schwierigkeiten.
Ein anderes Modell sind sogenannte Gesundheitskioske, wie sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor der im Herbst erwarteten nächsten Corona-Welle bundesweit in Brennpunktquartieren einrichten will. Dort werden keine medizinischen Leistungen erbracht, aber es gibt Beratung und Antworten auf medizinische Fragen. Außerdem können dort Termine mit Haus- oder Fachärzten vereinbart werden.
In Bremen wird das Liga nicht einfach als eine neue medizinische Einrichtung begriffen, sondern als ein Baustein der sozialen Stadtentwicklung: Bei der Fortschreibung des Integrierten Entwicklungskonzepts (IEK) Gröpelingen war Anfang 2021 der Aufbau eines neuen und zentral gelegenen Gesundheitszentrums als ein Schlüsselprojekt innerhalb des Maßnahmenpakets benannt worden, mit dem die Situation im Stadtteil insgesamt verbessert werden soll. Dahinter steht die Erkenntnis, dass in Gröpelingen viele Menschen leben, die nicht die gleichen Chancen und Teilhabemöglichkeiten haben wie Menschen in vielen anderen Stadtteilen und die andere Zugänge zu den Themen Bildung, Arbeit und Gesundheit brauchen.
Zachau begrüßt es, dass diese ganzheitliche Herangehensweise nun offenbar immer weitere Kreise zieht: „Es ist erfreulich, dass solche Themen jetzt auch in der Dachorganisation der Ärzte ankommen. Es geht darum, dass wir Formen finden, Ärzte zu entlasten und die Menschen im Quartier zu begleiten.“