Dass die Bahnhofsvorstadt als einstmals wohlsituiertes Wohngebiet in unmittelbarer Nähe zu den Wallanlagen inzwischen in puncto Sozial-Prognose, Infrastruktur und damit auch Lebensqualität dramatisch abgerutscht ist, das ist inzwischen ein offenes Geheimnis, das sich auch in den Zahlen des Sozialressorts spiegelt. Viele Kinder und Jugendliche und deren Familien sind wegen ihres geringen Einkommens auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Erst jüngst hatten Stadtteil-Parlamentarier wie Holger Ilgner (SPD) sowie die CDU-Politiker Dirk Paulmann und Ingrid Kreiser-Saunders, die selbst seit Kindertagen in dem Viertel wohnt, das immer wieder moniert. Doch lange tat sich in dem inzwischen benachteiligten Quartier gar nichts.
Jetzt scheint es doch einen Silberstreif am Horizont zu geben. Holger Ilgner hatte auf einer der letzten Sitzungen des Sozialausschusses der Beiräte Östliche Vorstadt und Mitte angeregt, den Wirkungsbereich der Bildungsbrücke im Viertel zur finanziellen Unterstützung von Kindern, die aus benachteiligten Familien kommen, über die Östliche Vorstadt hinaus auf das gesamte Beiratsgebiet Mitte, einschließlich der Bahnhofsvorstadt zu erweitern. Und genau das ist jetzt passiert. Ein weiterer Hoffnungsschimmer kommt von der Hans Wendt-Stiftung, auch wenn das Förder-Budget mit 8000 Euro pro Jahr von dieser Seite eher überschaubar ist. So waren Stefan Kunold und Iris Wensing von der Hans-Wendt-Stiftung jüngst im virtuellen Stadtentwicklungsausschuss des Beirates Mitte zu Gast, um über das Projekt mit dem Titel IWH5 zu berichten, mit dessen Hilfe die Wendt-Stiftung stadtweit fünf Kleinst- und Sonderquartiere fördern und entwickeln will. Eines davon ist die westliche und nördliche Bahnhofsvorstadt mit Schwerpunkt Falkenstraße und dem angrenzenden Doventor.
Die Stiftung hatte sich um eine Ausschreibung der Sozialsenatorin zur Förderung lebendiger Quartiere beworben und coronabedingt den Zuschlag erst Ende Mai erhalten. Die Maßnahme soll nun von Mai 2021 bis Dezember 2023 laufen. Danach ist geplant, dass die angestoßenen Verbesserungsmaßnahmen und die Entwicklung niedrigschwelliger Förderangebote von einem der Senatsressorts weiter finanziert werden sollen. Das werde noch ein dickes Brett werden, dass da zu bohren sei, prophezeite Birgit Olbrich (SPD) mit Hinweis auf die Komplexität der zu stellenden Förderanträge. Auch dort möchte die Stiftung Hilfestellung geben. Denn generell fehlt es in der Bahnhofsvorstadt an vielem: So gibt es, einmal abgesehen von dem unterfinanzierten Angebot in der Sankt-Michaelis-Gemeinde am Doventor, so gut wie keine Freizeiteinrichtungen für Jugendliche und keine Spielmöglichkeiten für Kinder. "Wir haben bei der Wendt-Stiftung eine umfassende Expertise in solchen Quartieren. Kurz: Wir wissen, wie es um Menschen steht, denen es nicht optimal geht, auch hinsichtlich ihres Bildungshorizontes", resümierte Kunold, der 20 Jahre Leiter des Quartiersbildungszentrums Blockdiek war. Iris Wensing hat ihr Anerkennungsjahr als Sozialarbeiterin im Quartiersmanagement Tenever absolviert und ist nun nach eigenen Worten voller Tatendrang, in ihrem Wunschquartier Bahnhofsvorstadt in 25-Wochenstunden die Ärmel hochzukrempeln.
"Frau Wensing wird hier in der Bahnhofsvorstadt eine umfassende Bestandsaufnahme machen. Ihre Aufgabe wird es sein, mit den vor Ort bereits vorhandenen Initiativen und Netzwerken und damit mit der Anwohnerschaft Kontakt aufzunehmen", erläuterte Kunold. In Schritt zwei solle es darum gehen, bis 2023 bedarfsgerecht abgestimmte Maßnahmen zu entwickeln. Zunächst soll Wensing neuralgische Punkte wie Sicherheit, Sauberkeit, Soziales, Gesundheit, Bildung, Vermietungssituation, Nahversorgung und Infrastruktur intensiv beleuchten. Und die Anwohnerschaft befragen, wo denn der Schuh drückt. Dazu will Wensing regelmäßig in den intensiven Austausch mit dem Beirat Mitte und den Akteuren vor Ort gehen. Geplant ist, eventuell in der Falkenstraße ein Ladenlokal als Büro anzumieten.
"Sehr erfreut" über diese Hoffnungsschimmer für die Bahnhofsvorstadt zeigte sich Ingrid Kreiser-Saunders. Die CDU-Stadtteil-Parlamentarierin hat in den letzten Jahrzehnten die Verwerfungen dort hautnah miterlebt. "Besonders die Falkenstraße ist immer mehr vor die Hunde gegangen. Der letzte, der kapituliert hat, war der Bäcker. Davor haben die Apotheke und die Arztpraxis geschlossen. Und außerdem ist die Grundschule an der Weser im angrenzenden Stephani-Quartier auch abgerissen worden". Gar nicht zu reden vom Sparmarkt Desens, der ein Vollsortimentierer war und von der Drogerie Stolzenbach, lange alle geschlossen. Fazit: Auf die Wendt-Stiftung und die Bildungsbrücke kommt jede Menge Arbeit zu.