In der Erzählung der einzig überlebenden Zeugin scheinen die Schreie der gefangenen Zivilistinnen des Stahlwerks in Mariupol nachzuhallen. Die junge Frau steht auf der Bühne des Schnürschuh-Theaters, ringt um Fassung, als sie von den lebendig brennenden Frauen und ihren Kindern erzählt, die in einer zugesperrten Kirche nach einem Bombentreffer qualvoll zugrunde gehen.
Fliegender Wechsel. Meike Lehmann, gehüllt in den Talar der Gerichtsbarkeit, schreit die Angeklagte in schneidendem Tonfall an: "Frau Schmitz, weshalb haben Sie die Kirchentür nicht aufgeschlossen?" Susanne Baum sitzt minutenlang schweigend auf ihrem Stuhl, ihr Blick geht ins Leere. Dann beginnt sie zögernd zu sprechen. Das, was sie zu sagen hat, erinnert fatal an die fadenscheinigen Ausflüchte des Nazi-Verbrechers Adolf Eichmann im Auschwitz-Prozess. Schließlich sei er nur ein Rädchen im Getriebe gewesen et cetera.
Auch Hanna Schmitz strahlt sie aus, diese Banalität des Bösen, von der die große Philosophin Hannah Arendt damals als Prozessbeobachterin sprach. Weshalb sie als 21-jährige Fabrikarbeiterin denn bei der SS als KZ-Aufseherin angeheuert habe? "Sie suchten eben Wachpersonal und: Wir konnten die Frauen doch nicht fliehen lassen", gibt sie mit tonloser Stimme zu Protokoll.
Von fesselnder Intensität
In den locker besetzten Reihen des Schnürschuh-Theaters könnte man während der Probe eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so atemlos ist die Stille. Eine Besucherin wird später im Publikumsgespräch sagen, dass besonders die Erzählungen der Zeugin sie in ihren Bann geschlagen haben. Und die Stimme der zweifachen jungen Mutter scheint zu zittern, als sie das sagt. Was die Bühnenkunst des Schauspiels kann, wird in der neuesten Produktion des Schnürschuh-Theaters deutlich: der Dramatisierung des Romanes "Der Vorleser" von Bernhard Schlink. Premiere ist am Sonnabend, 14. Mai.
Regisseur Pascal Makowka erzielt mit dem Einsatz spärlichster, szenischer Mittel, ein paar Stühlen sowie drei Türrahmen, eine maximale Wirkung. Einer der Zuschauer wird später von einer "fesselnden Intensität" sprechen, auch und gerade, weil das Regie-Team den Mut zur Langsamkeit hat.
Dem Publikum stockt samt und sonders der Atem angesichts dieser leisen, unspektakulären Bilder, in denen besagte Banalität des Bösen aufscheint. Die Empathie, das Mitleiden, scheint greifbar nahe zu sein, da, wo der Blick auf die omnipräsenten Bilder, die über soziale Medien aus der kriegsverwüsteten Ukraine verbreitet werden, vielleicht schon abgestumpft sein mag.
Das Vorlesen als erotisches Vorspiel
Schon Jahre habe sich das Schnürschuh-Theater um die Rechte bemüht, um den "Vorleser" in eine Bühnenfassung gießen zu lassen, sagt der Regisseur. Erst im Herbst 2021 habe Autor Bernhard Schlink, der selbst Jurist ist, grünes Licht gegeben. Sein 1995 erschienener Bestseller wurde in 50 Sprachen übersetzt und 2008 in Hollywood in Star-Besetzung mit Kate Winslet und Ralph Fiennes verfilmt.
Schlinks verschachtelt gebauter Justizkrimi drehe sich um Schuld und Sühne, resümiert Makowka. Und letztendlich um zwei traumatisierte Menschen, fügt seine Kollegin Anja Hinrichs hinzu. Zwei so ungleiche Menschen, die nach einem gemeinsamen, unbeschwerten Liebessommer nie wieder zueinander finden werden. Die 36-jährige Analphabetin und der 15-jährige Primaner, der im erotischen Vorspiel zu ihrem Vorleser wird.
Auch ein Beziehungs-Drama
Erst viel später wird er Hanna als Jurastudent und Hospitant des Auschwitz-Prozesses wieder treffen. Glücklich werden beide nicht, sie muss eine langjährige Gefängnisstrafe abbüßen und entzieht sich ihm noch im Tod. Und er ist schließlich so traumatisiert, dass ihm jede weitere Beziehung zwischen den Händen zerrinnt. So ist "Der Vorleser" nicht nur ein Justiz-Drama, sondern auch ein Drama, das davon erzählt, was Menschen einander in einer Beziehung antun können.
In der komprimierten Fassung voller überraschender Wendungen agieren drei ganz fabelhafte Schauspieler: Meike Lehmann, äußerst überzeugend gleich in einer Vielzahl von Rollen, Florian Weigel als der Vorleser Michael Berg und last not least Susanne Baum in der Rolle der Hanna, mal ganz zart in ihren ungelenken Zärtlichkeiten, dann wieder mit demütigend-grober Schroffheit. Es ist sozusagen die Notfallbesetzung, eigentlich sei das Stück für sechs Schauspieler konzipiert worden, sagt Anja Hinrichs. Aber man könne ja nie wissen, der nächste Corona-Winter kommt bestimmt.