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Zwischen Fakten und Fiktionen: Ines Beilke-Voigt erklärt im Focke-Museum, wie Mumienfunde gedeutet werden Was Moorleichen Forschern verraten

Schwachhausen. Durch das saure Milieu und den Sauerstoffabschluss werden menschliche Überreste in Mooren konserviert. Um die Mumien, die oft zufällig beim Torfstechen entdeckt wurden, ranken sich allerlei Legenden, die jedoch wissenschaftlich nicht immer eindeutig belegt werden können. Die Prähistorikerin Ines Beilke-Voigt stellte im Focke-Museum Moorleichenfunde vor und erklärte dem Publikum die Vielzahl der Deutungsansätze in der Forschung.
19.09.2011, 05:00 Uhr
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Von SANDY BRADTKE

Schwachhausen. Durch das saure Milieu und den Sauerstoffabschluss werden menschliche Überreste in Mooren konserviert. Um die Mumien, die oft zufällig beim Torfstechen entdeckt wurden, ranken sich allerlei Legenden, die jedoch wissenschaftlich nicht immer eindeutig belegt werden können. Die Prähistorikerin Ines Beilke-Voigt stellte im Focke-Museum Moorleichenfunde vor und erklärte dem Publikum die Vielzahl der Deutungsansätze in der Forschung.

Der jüngste Moorleichenfund wurde im Jahr 2005 bei Torfstecharbeiten im Großen Moor im niedersächsischen Landkreis Nienburg/Weser bei Uchte geborgen: die bisher älteste Moorleiche in Niedersachsen wurde ans Tageslicht befördert. Bei den sterblichen Überresten handelt es sich um ein 16 bis 21 Jahre altes Mädchen, das in der vorrömischen Eisenzeit etwa um 650 vor Christus lebte. Nach den Worten von Beilke-Voigt umfassen die bisherigen Funde aus Nordeuropa und den britischen Inseln alle Epochen von der Steinzeit bis in die Neuzeit.

Etwa 1000 Moorleichen aus Europa oder deren Teile sind gegenwärtig bekannt. Durch die Untersuchung der Funde konnten jedoch längst nicht alle Geheimnisse gelüftet werden. "Die Mumien aus dem Moor sind für die Archäologie wichtige Zeitzeugen vergangener Jahrtausende, doch geben sie weiterhin Rätsel auf", erklärt Beilke-Voigt. Als Heisenberg-Stipendiatin der deutschen Forschungsgemeinschaft hat sie unter anderem den bronzezeitlichen Burgwall Lossow in Frankfurt/Oder untersucht. An der Humboldt Universität Berlin studierte Beilke-Voigt bis 1991 Ur- und Frühgeschichte, Anthropologie und Archäologie.

Kleidung zersetzt sich schneller

"Die meisten Mumien sind unbekleidet gefunden worden", sagt Beilke-Voigt. Das liege aber an der Wirkung der Huminsäuren im Moorboden, die Stoffe wie Leinen in bestimmten Mooren leicht zersetzen. Je nach Moorart würden Textilreste jedoch manchmal auch gut erhalten bleiben.

Bei einigen Funden sind laut Beilke-Voigt verschiedene Abdeckungen wie Decken, Umhänge oder auch Holzgerüste gefunden worden. Das lasse auf eine "sanfte Niederlegung schließen". Des Weiteren könne man feststellen, ob es Anzeichen für Gewalteinwirkung gibt und was die letzte Mahlzeit vor dem Tod gewesen sei.

Liegen diese Befunde vor, dann erlauben sie nicht selten die unterschiedlichsten Interpretationsansätze. "Besonders in der dänischen und niederländischen Forschung gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass es kultische Opfer gab", berichtet Beilke-Voigt. Sie weist aber auch darauf hin, dass es für diese These meistens zu wenig Indizien gebe: "Funde von Frauen und Kindern sind dadurch nicht zu erklären, und neue Forschungen ergeben ganz andere Bilder."

Nach der Strafopferthese wurden Menschen, die die Rechtsgewalt verletzten, zur Bestrafung im Moor versenkt. Laut Überlieferungen des römischen Historikers Publius Cornelius Tacitus, der bis 120 vor Chr. gelebt hat, seien "Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Unzüchtige im Schlamm und Sumpf versenkt worden". Doch auch das erkläre nicht die Kinderleichen, die gefunden wurden, sagt die Historikerin: "Viele Indizien sprechen auch für eine Wiedergängerfurcht", also die Angst vor lebenden Leichnamen. Um die Toten am Zurückkommen zu hindern, seien dem Aberglauben nach beispielsweise Abdeckungen aus Holz über den Körpern fixiert worden, die Augen verbunden oder Leichenteile bewusst einzeln bestattet worden.

Natürlich könne auch Mord nicht ausgeschlossen werden. Letztendlich gebe es jedoch keine einheitlichen Thesen und Erkenntnisse, so Beilke-Voigt. Im Domslandmoor, nahe der Ortschaft Windeby bei Eckernförde in Schleswig-Holstein, wurde zum Beispiel 1952 ein Leichnam gefunden, der zunächst für eine junge Frau gehalten worden ist. Der Körper ist ursprünglich in einer knapp zwei Meter tiefen ausgehobenen Grube auf einer Schicht Heidekraut niedergelegt und mit Wollgras bedeckt worden.

Geschorenes Kopfhaar

Die Augen waren beim Fund durch eine Augenbinde verdeckt und das Kopfhaar auf einer Seite geschoren. Außerdem war der Daumen einer Hand zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, die so genannte Feigenhand. Dieser Geste wird heutzutage eine eher sexuelle Bedeutung beigemessen, im antiken Rom war die Feigenhand ein weit verbreitetes Fruchtbarkeits- und Glückssymbol und diente zur Abwehr von bösem Zauber. Auch die Germanen sollen das Symbol verwendet haben.

Wenige Tage später wurde ungefähr fünf Meter von der Fundstelle entfernt eine zweite Moorleiche gefunden. Über der Leiche befanden sich acht krumme, armdicke Äste, die in den Boden gesteckt worden waren. Um den Hals hatte der als männlich identifizierte Körper eine Schnur geschlungen. Die Vermutung liegt nahe, dass der Mann erdrosselt worden ist. Laut Beilke-Voigt galten die Funde als Paradebeispiel für Ehebruch: "Die Indizien waren stimmig und ließen die Interpretation der Ehebrecherin und ihrem Liebhaber zu, die zur Strafe hingerichtet und im Moor versenkt worden sind."

2006 konnte durch DNA-Untersuchungen so gut wie zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass es sich bei dem "Mädchen von Windeby", um einen Jungen handelt. "Die Theorie des Ehebruchs war dann nicht mehr länger haltbar", sagt die Prähistorikerin. Es sei außerdem schon im Jahr 1979 nachgewiesen worden, dass der Daumen nachträglich in die Feigen-Position gebracht worden ist, um womöglich die Ehebruchtheorie zu untermauern.

Doch schon vor der eindeutigen Feststellung des Geschlechts und der Klärung der Bedeutung der speziellen Handhaltung hätten die Forscher andere Schlüsse ziehen können: Bei der angeblichen Augenbinde der Mumie könnte es sich auch um ein Kopfband handeln, das heruntergerutscht ist, erklärt Beilke-Voigt: "Die Todesursache des Jungen ist nicht geklärt, es gibt jedenfalls keine Spuren von Gewalt." Neueste Untersuchungen würden eine Strukturverdichtung der Knochen aufweisen, möglicherweise hervorgerufen durch eine Mangelernährung. Ein natürlicher Tod sei deshalb wahrscheinlich.

Als Begleitprogramm der im Mai eröffneten Dauerausstellung zur Ur- und Frühgeschichte werden im Focke-Museum Führungen angeboten. Am 25. September um 15 Uhr gibt es zudem eine archäologische Stadtführung. Reservierungen unter Telefon 699 600 50.

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