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Bremer Spielplätze Als Rollstuhlfahrer ausgeschlossen

Beim Kriterium Barrierefreiheit liegt der Spielplatz "Großer Kurfürst" in der Spitzengruppe der Bremer Sozialbehörde. Der Praxistest durch einen jungen Rollstuhlfahrer legt indes große Defizite offen.
07.07.2023, 05:00 Uhr
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Als Rollstuhlfahrer ausgeschlossen
Von Ulrike Troue

Der große Holzturm mit Rutschen und Kletternetz, die Seilbahn, Schaukeln und Turnstange – für viele Kinder gibt es kein Halten mehr, sobald sie den ersten Fuß auf den rund 6000 Quadratmeter großen Spielplatz „Großer Kurfürst“ in der Gartenstadt Vahr gesetzt haben. Dass für ihn die meisten Spielgeräte unerreichbar sind, kennt Martin Nizama schon. Er hat das Guillain-Barré-Syndrom, eine Form von Polyneuropathie, bei der es zu Muskelschwäche kommt. Martin ist an den Rollstuhl gefesselt. 

Trotzdem hat sich der 14-Jährige mit seiner Tante Marilyn Barrón von Arsten aus auf den Weg zum Spielplatz „Großer Kurfürst“ gemacht. Er möchte ihn testen, schließlich zählt der Spielplatz unter dem Aspekt Barrierefreiheit zu den fünf Spitzenreitern unter rund 200 Spielplätzen, für die das Sozialressort zuständig ist. Bei der jüngsten Bestandsaufnahme ist der „Große Kurfürst“ in Bezug auf die Nutzbarkeit von Menschen mit Behinderung ohne Erschwernis oder fremde Hilfe mit 4,06 Punkten von fünf möglichen eingestuft worden. Das hat Martins Neugier geweckt.

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Zuerst entdeckt der junge Rollstuhlfahrer nach seiner Ankunft wenige Meter hinter der Bushaltestelle Brandenburger Straße links die Seilbahn. Den Weg durchs Gras könnte er nur mithilfe seiner Tante bewältigen. „Der ist zu holprig“, sagt der von seiner Körperstatur her eher schmächtige Jugendliche. Aber dieses Spielgerät könnten ohnehin Rollstuhlfahrer wie er überhaupt nicht nutzen, bemerkt Martin.

Schräg gegenüber sieht der Schüler, der die Paul-Goldschmidt-Schule für körperliche und motorische Entwicklung besucht, die zentrale große Spiellandschaft. Der gepflasterte und teilweise einseitig mit Handlauf ausgestattete Weg im Halbrund ist für ihn ein erster Lichtblick. Mit seinem Elektrorollstuhl, den er heute nicht benutzt, käme er darüber zumindest in unmittelbare Nähe der Bewegungsangebote. Hätte er mehr Kraft in den Armen und normal ausgebildete Hände, wäre ein Langhangeln am Leitgestänge möglich.

Allerdings sind das Gras und die Sandflächen unterm Spielturm, dem Gestell mit der normalen und einer Partnerschaukel sowie dem Gestell für die Turnstange eine Hürde für körperlich beeinträchtigte Menschen. Die Strecke zur Nestschaukel über Holzhackschnitzel-Grund lässt sich mit dem Rollstuhl ein wenig leichter zurücklegen.  

Die Beschaffenheit der Böden erweist sich häufig als erstes Hindernis für Inklusion auf dem Spielplatz. Für den Weg zu einem Spielgerät braucht der gebürtige Peruaner, der seit vier Jahren mit seiner Familie in Arsten lebt, Schiebehilfe von Marilyn Barrón. Und die stutzt, als sie sich mit ihrem Neffen dem großen Kombispielgerät nähert.

Der Weg dahinter endet direkt an einem kleinen Podest. In dieser Höhe besteht die Gefahr, dass Rollstuhlfahrende sich den Kopf an der Holzplattform stoßen, fällt ihr auf. „Und wo ist die Rampe zum Rauffahren?“, fragt sich die ausgebildete Physiotherapeutin. Ihr Neffe bemerkt zudem, dass der breite Verbindungssteg zwischen beiden Rutschen „viel zu schräg“ sei, um den Höhenunterschied im Rollstuhl überwinden zu können. Das ist offensichtlich aber auch gar nicht vorgesehen.

Schön wäre es gewesen, wenn der gepflasterte Weg bis ans Kletternetz führen würde, findet das Duo – zumindest in Rollstuhlbreite. Dann könnten sich Kinder mit diesem Handicap vielleicht an den Seilen ein kleines Stück aus dem Sitz hoch- und wieder herunterhangeln. 

Bei den Rutschen hingegen ist auf die Barrierefreiheit geachtet worden, stellen Martin Nizama und Marilyn Barrón danach fest. Sie zeigen auf die jeweils am Ende verlängerte und gerade auslaufende Rutschbahn sowie die höheren, besseren Halt gebenden Seitenelemente an der langen Röhre. Die kürzere Rutsche ist so breit, dass zwei Kinder nebeneinander hinuntersausen können. Dort könnte ein beeinträchtigtes Kind mit einem anderen Kind problemlos rutschen. 

Überraschenderweise sorgt zuletzt die Nestschaukel für ein Lächeln bei Martin. Erst ziert er sich, als er gefragt wird, ob er in das geflochtene Rund gehoben werden will, das unter Kita- und Grundschulkindern beliebt ist. Aber weil er noch nie im Leben eine Nestschaukel ausprobiert hat, willigt er schließlich ein. 

„Okay, das gefällt mir sehr“, sagt er danach. Er würde gern öfter schaukeln und in entspannter Rückenlage den Blick in den Himmel richten. Der 14-Jährige sagt kein Wort, nur seine Augen strahlen. 

Nach einer Weile möchte der Viertklässler in seinen Rollstuhl zurück. „Mein Kopf tut weh“, sagt er. Zumal auch andere Körperstellen schmerzen. Die Kunstoffseile seien auf Dauer zu hart und würden in die Haut einschneiden. Den Planern inklusiver Spielplätze rät Martin Nizama am Ende des Experiments, sich auf dem Schulhof der Paul-Goldschmidt-Schule in Burglesum umzusehen: Er sei mit vielen abwechslungsreichen, für Rollstuhlfahrende geeigneten Spielgeräten bestückt.

Zur Sache

Info

Die Aktion Mensch hat in Kooperation mit dem Forschungs­institut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS) eine Spielplatzstudie erstellt und die wichtigsten Merkmale für inklusive Spielplätze aufgelistet: www.aktion-mensch.de/inklusion/sport/barrierefreiheit-im-sport/inklusive-spielplaetze-studie.

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