Manchmal gleicht das Wohnzimmer von Ralf Ziemer einem Taubenschlag: Dutzende Menschen tummeln sich in und um das Wohnzimmer und die Terrasse; darunter viele mehr und auch minder bekannte Gesichter aus der lokalen und regionalen Musikszene. Im steten Wechsel greifen sie zu ihren Instrumenten. Regelmäßige Gäste sind die Vollblutmusikerin Ella Winkelmann, Sänger und Gitarrist Rüdiger Estrup, die Songschreiber Mareike Christ, Stephan Pelikan und Jürgen Fastje, Multtiinstrumentalist Tjard Cassens, Sänger und Gitarrist Oliver Rapp und Multiinstrumentalist und Satiriker Uwe Niewerth. In Ziemers Wohnzimmer tragen sie selbst geschriebene Lieder vor ausgewählten Zuhörern vor – oft in einmaligen Versionen.
Zu den Charakteristika gehört, dass sich die Musizierenden in immer neuen Konstellationen zusammen finden – manchmal spontan, oft auch verabredet. Konkurrenzdenken gibt es nicht. Allen Beteiligten geht es ausschließlich um den Spaß an der Sache und die schiere Freude am gemeinsamen Erlebnis. Sobald Musik erklingt, wird es ruhig, die Zuhörer lauschen und geizen niemals mit Applaus.
Motivation für viele
Über Jahre hinweg haben sich diese privaten „Wohnzimmerkonzerte“ in Aumund durch reine Mundpropaganda sowohl für Musikschaffende als auch für Musikfreunde zu einer unregelmäßigen Institution entwickelt. Für Ziemer, „Ralli“ genannt, sind sie zu einer Art Lebenselixier und beständigem Antrieb geworden: „Es ist für mich eine Ehre, gemeinsam mit anderen vor Zuhörern musizieren zu dürfen. Das ist für mich wie eine Droge – vermute ich zumindest“, so der ehemalige Rettungsdienstleiter. „Erst mit 40 habe ich damit begonnen, mit anderen Menschen zusammen zu spielen. Zuvor habe ich etwa 25 Jahre nur für mich alleine Gitarre gespielt – unter anderem, weil ich immer furchtbares Lampenfieber habe.“ Schützenhilfe erhielt er durch Ella Winkelmann: „Ella und ich sind seit vielen Jahren sehr gut befreundet, dementsprechend wusste sie um meine Musikleidenschaft – und fragte mich irgendwann, ob ich sie nicht bei einem Kirchenauftritt instrumental begleiten wolle. Das muss etwa zehn Jahre her sein, und ich frage mich bis heute, warum mein Lampenfieber an diesem Tag wie weggeblasen war“, erinnert sich Ziemer.
Kurz darauf wurde die Idee zum „Wohnzimmerkonzert“ im Hause Ziemer geboren. Platz und Kontakte gibt es viele: „Nicht zuletzt dadurch, dass ich 20 Jahre Rettungswagen gefahren bin, kannte ich schon recht viele Musiker. In den Jahren darauf hat sich dieser Kreis erheblich erweitert: Viele Musiker haben mich gefragt, ob sie beim nächsten Mal noch weitere Musiker mitbringen dürfen. Oft wurde ich zudem von Nachbarn und Bekannten angesprochen, ob sie zum Zuhören vorbei kommen dürfen. So ist das alles gewachsen“, resümiert Ziemer.
Laien und Profis sind willkommen
Da gibt es abseits des Wohnzimmertreffs sogar eine Whatsapp-Gruppe. Die Atmosphäre biete gleichzeitig einen Schutzraum und Motivation. So räumt beispielsweise Stephan Pelikan freimütig ein, erst durch Ziemer und die Wohnzimmerkonzerte zur Musik zurückgefunden und daraufhin Instrumente und Jugendträume wieder vom Dachboden geholt und entstaubt zu haben. Aus dem Dunstkreis der Wohnzimmerkonzerte formierte sich um den Songschreiber, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu den umtriebigen Köpfen der nordbremer Band- und Musikszene zählte, kurz vor Beginn der Pandemiepräventionsmaßnahmen sogar eine neue Formation mit den Multiinstrumentalisten Olaf Balczun und Tjard Cassens sowie Bassist Michael „Bexi“ Becker. Sie wollen künftig verstärkt auch abseits des Ziemer'schen Wohnzimmers loslegen – mit vielen neuen Songs.
Für Pelikans Nichte Juliane Kraus sind die Wohnzimmerkonzerte hingegen die einzige Bühne, die sie betreten möchte: „Ein 'richtiger', öffentlicher Auftritt vor Publikum wäre nichts für mich: Ich wäre viel zu nervös“, gesteht sie. In Ziemers Wohnzimmer hingegen blüht Kraus am Mikrofon förmlich auf und erhält Applaus. Ähnliche Erfahrungen machte Oliver Rapp: „Ich habe zwar früher viel in Bands gespielt, mich jedoch irgendwann lieber als Instrumententechniker betätigt“, erzählt er. So lernte er Ziemer kennen und wurde zum Wohnzimmerkonzert eingeladen. „Dort war ich zunächst nur als Zuhörer – und war von dieser Atmosphäre, dem Miteinander und dem zwanglosen Aufspielen aller Beteiligten so begeistert, dass ich beim nächsten Mal ebenfalls dabei sein wollte.“
Ein eigener Mikrokosmos
Mit dem Oldenburger Jürgen Fastje findet sich ein regelmäßiger Teilnehmer, der als kreativer Kopf der Band „Romeos“ in den Neunzigerjahren sogar eine internationale Karriere vorweisen konnte. „Ralli und ich waren als Kinder fast Nachbarn, haben unter anderem regelmäßig zusammen gebolzt. Irgendwann haben wir uns danach aus den Augen verloren." Die Einladung zu den Wohnzimmerkonzerten nahm er gerne an, "ich freue mich nicht nur über diesen Austausch mit anderen Musikern, sondern auch, dass auf diese Weise wieder ein regelmäßiger Kontakt zu Ralli entstanden ist“.
Die Wohnzimmerkonzerte sind ein eigener Mikrokosmos und dauern mittlerweile bis zu acht Stunden – von Ziemer einen Großteil mit seiner Gitarre begleitet. „Nach so einem Tag bin ich erst mal völlig fertig und brauche mindestens drei Tage, um mich wieder zu erholen“, erklärt Ziemer, der gesundheitlich eingeschränkt ist. Körperliche Strapazen nimmt er für seine Wohnzimmerkonzerte jedoch gern in Kauf: „Natürlich signalisiert mir mein Körper nach einem solchen Marathon, dass ich ihm mal wieder zu viel zugemutet habe. Das Glücksgefühl, was ich durch die Freude am Musizieren mit anderen erhalte, ist es mir jedoch absolut wert.“