Vegesack. Eine Talkshow mitten auf dem Sedanplatz: Die Bremer Journalistin Annette Wagner ist mit ihrem „roten Sofa“ zum Grünmarkt angereist, um engagierte Vegesacker zur Zukunft des lokalen Einzelhandels zu interviewen. Zwischen Obstständen, Bäckerwagen und Kartoffelverkauf soll es um die Bedeutung und Chancen des lokalen Einzelhandels gehen. So sieht es aus, das Rahmenprogramm beim „Heimat-Shoppen“ in Vegesack.
Es dauert eine Weile, doch nach und nach lassen sich immer mehr Passanten auf den Talk ein. So hat sich eine ganze Schar Zuhörer um das rote Sofa versammelt, als Katja Pourshirazi vom Overbeck-Museum darauf Platz nimmt und davon erzählt, wie sie es ohne gesonderten Etat mit speziellen Aktionen und freiem Eintritt schafft, jedes Jahr über 1000 Kindern und Jugendlichen das Museum näherzubringen. Kinder haben ein Recht auf Schönheit, ist sie überzeugt. Darum wird im Museum gezeichnet, gebastelt und gemalt. Manche der dabei entstandenen Bilder werden sogar neben den Werken von Overbeck präsentiert und ebenso professionell ausgeleuchtet. Antrieb der Museumsleiterin ist der Wunsch, den Kindern kulturelle Bildung zu vermitteln und zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung beizutragen. Kultur, sich willkommen fühlen, gute Einkaufsmöglichkeiten – das alles gehört für Katja Pourshirazi zu einem lebenswerten Ort.
Kurz vorher darf Floristin Michaela Weichelt auf dem roten Sofa Platz nehmen. Die Inhaberin des Floristik-Fachgeschäfts „Ideen mit Blumen“ in der Gerhard-Rohlfs-Straße wird zum Thema Blumen befragt, unter anderem zu einer speziellen Sorte Rosen, die nirgends so gut gedeihen wie im ostafrikanischen Klima Kenias.
„Es tut sich was“, antwortet Michaela Weichelt und verweist auf die stark zurückgegangenen Leerstände. Die Zukunftschancen des eigenen Geschäfts schätzt sie optimistisch ein. Bereits seit der Übernahme ihres ehemaligen Ausbildungsbetriebs vor sechs Jahren verzeichne es einen Zuwachs. „Es gibt auch online Blumen, aber das Persönliche, die Emotionen kann man nicht im Internet bestellen.“
Durch und durch optimistisch gibt sich auch Martin Mader, Inhaber der Buchhandlung Otto & Sohn in der Breiten Straße. Die Veränderungen durch das Internet seien allerdings gravierend. Als Gastgeberin Annette Wagner wissen möchte, wie lange es dauert, ein nicht vorrätiges Buch über den Buchladen zu bestellen, spricht Mader von Lieferzeiten, die auch der Internethandel kaum unterbieten kann. Viel wichtiger ist ihm der Hinweis auf die 3,54 Milliarden Pakete, die seinen Angaben nach Jahr für Jahr als Folge von Internetbestellungen transportiert werden müssen. Mader verweist auf den damit verbundenen zusätzlichen Verkehr und den so verursachten hohen CO2-Ausstoß. „Als Verbraucher müssen wir uns fragen, wollen wir das alles.“
Das Einkaufen vor Ort ist daher für Mader nicht nur ein Beitrag zum sozialen Leben in der Stadt und zum Erhalt des lokalen Angebots, sondern auch ein Beitrag zum Umweltschutz. Um dem Online-Handel Paroli zu bieten, müsse die Ortsverbundenheit der Kunden jedoch gefördert werden. Ein selbst verfasstes kleines Kinderbuch, dessen Bildergeschichte zwischen Weser und Schloss Schönebeck spielt, und den seit 1997 jährlich herausgegebenen Fotokalender mit Bildern aus Bremen-Nord versteht Mader als Beiträge, die Ortsverbundenheit zu fördern.
Kritik von Kunden
Die gebürtige Vegesackerin Angelika Erovic hat sich unter die Zuhörer des Talks gemischt. Ihre Einschätzung des lokalen Einzelhandels fällt düster aus. „In der Lindenstraße ist nichts. Da soll immer mal was hin, aber es kommt nicht.“ Für die Fußgängerzone wurde ihrer Meinung nach schon viel Geld sinnlos ausgegeben. Es fallen die bekannten Stichworte Markthalle und Blaues Band, auch wenn die blauen Leuchten längst gegen gestaltete Pflastersteine ausgetauscht wurden. „Irgendwann reißen sie die Markthalle auch wieder ab“, glaubt Angelika Erovic. Gern erinnert sie sich an die Zeit, als es in Vegesack ein Hertie-Warenhaus gab und eine Kaufhalle. Sie vermisst in der Fußgängerzone Sitzgelegenheiten und Unterstellmöglichkeiten so wie in Bremerhaven. Etwas Positives fällt ihr schließlich doch noch ein. „Der Grünmarkt reißt alles raus und es ist sauber.“
Ortsamtsleiter Heiko Dornstedt kennt die Sortimentslücken im Vegesacker Einzelhandel: Kinderbekleidung, Elektronik, Sportartikel. „Die fehlen, und da muss man was tun. Aber die Politik kann nicht die unternehmerische Entscheidung ersetzen.“ Der bevorstehende Beschluss über das Zentren- und Nahverkehrskonzept werde die Grundlage schaffen für ein Einkaufszentrum zur ortsnahen Versorgung beispielsweise in Fähr-Lobbendorf, wo es jetzt nichts gebe, erklärt Dornstedt. Den Einzelhandel in der Vegesacker Innenstadt beurteilt er als positiv, verweist auf motivierte Einzelhändler und geringe Leerstände. „Vegesack befindet sich im Aufwärtstrend und spielt seine Rolle als Mittelzentrum für immerhin 100 000 Einwohner sehr gut.“ Dornstedt selbst kauft übrigens am liebsten vor Ort ein.
Der geringe Leerstand wird immer wieder als Beleg für die gute Entwicklung genannt. „Im Vergleich zu vor zehn bis zwölf Jahren haben wir eine gute Situation“, sagt Martin Mader. „Wir können uns nicht beklagen. Die Fußgängerzone funktioniert.“ Von den Menschen in Bremen-Nord wünscht er sich dafür mehr Wertschätzung.
Bei Gisela Gaschni rennt er damit offene Türen ein. „Es ist alles da, Augenarzt, Geschäfte, alles fußläufig zu erreichen“, sagt die 70-Jährige. Ihr ganzes Leben verbrachte sie in Hessen, bis sie vor fünf Jahren nach Vegesack gezogen ist. Heute wohnt sie ganz nah an der Weser und fühlt sich sehr wohl. Nicht einmal das Vorurteil von den sturen Norddeutschen habe sich bestätigt, erzählt Gisela Gaschni. „Die Menschen sind alle sehr offen. Mir gefällt es hier von Tag zu Tag besser.“