Bremen-Nord. Die Diagnose Multiple Sklerose, kurz MS, kam 2010. Carmen Mazur kann sich noch genau an eben jenen Tag erinnern. Sie litt in der Zeit unter Sehstörungen, die zunächst nicht erklärbar waren. „Ich war dadurch massiv eingeschränkt, auch bei meiner Arbeit. Ich konnte nicht einmal mehr die Zahlen in den Excel-Tabellen auf dem PC-Bildschirm erkennen“, sagt Mazur.
Nachdem sie bei verschiedenen Augenärzten war, habe ihr Hausarzt sie dann zur Magnetresonanztomographie (MRT) überwiesen. Im Krankenhaus Bremen-Ost kam die Diagnose: MS – eine bisher unheilbare chronische Nervenerkrankung.
„Ich war geschockt und habe mich schon vor meinem inneren Auge in einem Pflegebett gesehen“, schildert Mazur. „Für mich brach eine Welt zusammen.“ Die Ärzte vermuteten damals, dass sie bereits 15 Jahre lang MS hatte. Bereits 1995 wurde Mazur bei einer halbseitigen Gesichtslähmung auf einen Schlaganfall behandelt, fünf Jahre später behandelte man einen damals so gedeuteten Bandscheibenvorfall.
Sie hatte Missempfindungen und leichte Lähmungserscheinungen im linken Arm, die aber auch wieder verschwanden. "Der Schlaganfall wurde dann 2010 als erster MS-Schub gedeutet, auch 1995 und 2000 wurden bereits MRTs vom Kopf und der Halswirbelsäule gemacht, doch diese seien damals noch zu unscharf gewesen, um die Krankheit klar zu diagnostizieren.
„Bei mir wurde die Multiple Sklerose dadurch sehr spät festgestellt. Bis zur richtigen Diagnose ist es oft ein langer Weg“, sagt die 63-Jährige. Nur zu oft werde MS nicht als solche erkannt. Es werde häufig mit Muskelschwund verwechselt. „Jeder ist anders betroffen. Es gibt leichte und schwere Verläufe und nicht ein einheitliches Krankheitsbild“, erläutert Mazur. MS nenne man daher auch die Krankheit der tausend Gesichter. Viele Betroffene haben sogenannte Schübe, manchmal mehrere innerhalb sehr kurzer Zeit. Einige, wie auch Mazur, hätten sie nur alle paar Jahre.
Nach der Diagnose habe ihr vor allem die MS-Selbsthilfegruppe in Bremen-Nord geholfen. „Ich bin dort sofort auf Verständnis gestoßen und musste mich nicht lange erklären. Wir kennen uns alle sehr gut. Es ist wie ein engmaschiges Netz, durch das keiner fällt. Man wird aufgefangen.“ Die Mitglieder würden sich vor allem über Erfahrungen, neue Therapien, Medikamente, Hilfsmittel und Reha-Möglichkeiten austauschen, über Möglichkeiten der Antragstellungen bei Ämtern und die damit verbundenen Schwierigkeiten, aber auch über Privates. „Man kann mit Multipler Sklerose durchaus alt werden. Da muss man Mut haben und darf nicht aufgeben, ich habe meinen Mut durch die Gruppe bekommen“, sagt Mazur.
Seit drei Jahren leitet sie die Selbsthilfegruppe. Derzeit können sich die Teilnehmer wegen der Corona-Problematik nicht treffen. „Wir bleiben aber trotzdem alle im Kontakt, wir haben unser Netzwerk“, beteuert Mazur. „Die gegenseitige Unterstützung gibt uns allen Halt.“ Die Gruppenmitglieder seien bunt gemischt. Es gebe jüngere und ältere Teilnehmer. Da häufig die Beine bei MS betroffen seien, würden einige einen Rollator nutzen, andere sind auf den Rollstuhl oder einen Elektrorolli angewiesen. Es gebe aber auch Betroffene, die den Rollstuhl mit Physiotherapie, viel Training und Energie wieder verlassen können.
MS könne sich auch durch kognitive Störungen bemerkbar machen, etwa durch Vergesslichkeit, Wortfindungs- und Sprachstörungen. Nicht selten seien die Augen betroffen, häufig durch Sehnerventzündungen. „Das kann bis zur Erblindung führen“, sagt Mazur. Darüber hinaus könne MS auch auf die Organe gehen und dort Komplikationen verursachen. Jeder Kranke höre bei Beschwerden immer in sich hinein. Man wisse dann, ob sie mit der MS in Verbindung stehen können.
„Viele Menschen wissen nicht, welche Symptome mit der Krankheit einhergehen“, sagt Mazur. „Auch wenn einer gesund und gut aussieht, kann er schwer erkrankt sein“, sagt die 63-Jährige. Doch nur zu oft werde man abgestempelt. Da viele MS-Kranke oft ein schlechtes Gangbild haben, würden daraus falsche Schlüsse gezogen werden. „Einige denken dann, man habe etwas getrunken“, erklärt sie. Sie wünsche sich daher mehr Rücksichtnahme und Wertschätzung – nicht nur für MS-Kranke, sondern auch für jeden anderen Menschen.
Carmen Mazur ist nach 43 Jahren Berufstätigkeit im vorgezogenen Ruhestand und genießt das. Ihre Freizeit fülle sie jetzt nur noch mit selbstbestimmten Terminen in mehreren ehrenamtlichen Tätigkeiten, in denen sie auch viel Wertschätzung und Dankbarkeit erfahre.
Sie sei derzeit zufrieden mit ihrem Gesundheitszustand. „Das kann morgen schon anders sein – die Krankheit ist unberechenbar“, sagt Mazur. Die Angst bei jedem neuen Schub bleibe. Man wisse nicht, ob sich die Beschwerden wieder zurückbilden oder die Einschränkungen bleiben. Als ihre Sehstörung im Jahr 2010 verschwand, war Mazur glücklich. „Ich habe mich sehr gefreut, wieder die farbenfrohe Natur zu sehen“, sagt sie. „Einige von uns haben durch die Schübe zunächst kein Gefühl in Händen und Armen. Die freuen sich auch, wenn sie wieder den Regen auf der Haut spüren können.“
Mazur versteht es nicht, dass viele Menschen oft jammern, nur weil sie etwa früh morgens aufstehen müssen. „Ich freue mich, wenn ich überhaupt jeden Morgen aufstehen kann. Bei dieser Krankheit kann es gut sein, dass man von einem Tag auf den anderen im Bett bleiben muss, weil einen die Beine nicht mehr tragen.“
Es seien auch die kleinen Dinge im Leben, die man zu schätzen wisse. „MS ist noch nicht heilbar. Man muss mit dieser Krankheit lernen umzugehen und versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen“, sagt Mazur. „Ich habe eine tolle Familie, die mir Rückhalt gibt und mich in jeder Lebenslage unterstützt. Darüber bin ich sehr glücklich“, sagt sie. „Ich habe meine Krankheit akzeptiert, auch wenn es nicht immer leicht ist. Und die Hoffnung auf neue Therapien und heilende Medikamente bleibt uns allen.“
Weitere Informationen
Die Treffen der Selbsthilfegruppe Bremen-Nord zu Multipler Sklerose finden immer am ersten Mittwoch im Monat von 15 bis 17 Uhr statt. Aufgrund der Corona-Krise fallen die Treffen derzeit aus. Umfassende Informationen zur Krankheit und weitere Einzelheiten zur Kontaktaufnahme finden Interessierte bei der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft Bremen unter www.dmsg-bremen.de.