Herr Hartwig, acht Jahre Ausschuss-, drei Jahre Beiratssprecher – was hat das Stadtteilparlament in dieser Zeit für Vegesack geleistet?
Jürgen Hartwig: Viele Dinge, die für den Stadtteil wichtig waren und wichtig sind, wurden vorangebracht.
Und welche genau?Der Beirat hat viele positive Stellungnahmen abgegeben, damit sich Vegesack entwickeln konnte. Mehr Wohngebiete sind entstanden und mehr Gewerbeflächen. Zudem haben die Fraktionen darauf geachtet, dass es parallel dazu auch neue Schul- und Kitaplätze gibt.
Dann hätte der Beirat aber mehr darauf achten müssen, als er es getan hat: Es fehlen Plätze ...Auch ich hätte mir gewünscht, dass vieles schneller gegangen wäre. Der Beirat hat jedoch immer wieder Druck gemacht und Übergangslösungen gefordert. Auch die Beteiligung von Bürgern ist in den vergangenen Jahren forciert worden. Auf das Umfrage-Projekt ‚Zukunft, Zentrum, Vegesack‘ sind viele weitere Verfahren gefolgt.
Das Projekt ist 2013 gestartet. Den Umbau des Bahnhofsplatzes, den Vegesacker damals eingefordert hatten, gibt es aber immer noch nicht.Dass alles so lange gedauert hat, stört mich genauso wie viele Vegesacker. Mein Eindruck ist, dass sich der Umbau aus finanziellen Gründen verzögert hat. Jetzt soll es aber losgehen.
Was hat denn der Beirat nicht geschafft?Nicht geschafft hat er, dass die Sporthalle an der Ludwig-Jahn-Straße saniert wurde, obwohl die Sanierung von der Behörde zugesagt war. Das Geld hat sie letztlich für etwas anderes ausgegeben, ohne den Beirat darüber zu informieren.
Und wie fällt nun Ihr Resümee für die Arbeit des Beirats aus?Unterm Strich hat der Beirat mehr Dinge erreicht als Dinge nicht geschafft. Die Fraktionen haben also eine gute Arbeit geleistet.
Warum hören Sie dann auf, wenn es gut läuft?Ich werde jetzt 68, bin seit knapp 40 Jahren bei der SPD, habe acht Jahre lang ehrenamtlich gearbeitet und möchte jetzt mehr für die Familie da sein.
Wie steht es denn um Ihren politischen Elan?Ich finde, dass die SPD politische Themen neu definieren müsste. Sie sollte sich bei ihrer Außen- und Sicherheitspolitik stärker profilieren als bisher. Die teils neoliberalen, teils konservativen Züge passen nicht zu ihr.
Kritisieren Sie Ihre Partei jetzt etwa?Die SPD ist und bleibt meine Partei. Sie hat es zum Beispiel gut hinbekommen, soziale Fragen aufzugreifen – auch in Bremen mit dem Mindestlohn, der wichtig ist.
Und was sagen Sie zu den Prognosen Ihrer Partei vor der Bürgerschaftswahl?Es wundert mich nicht, dass die Opposition aufholt. Und zwar deshalb, weil die Aufnahme der Flüchtlinge viele Bereiche überfordert und Menschen unzufrieden gemacht hat.
Aber dann müsste doch weniger die SPD, sondern mehr die CDU an Wählergunst verlieren. Schließlich ist der Satz ,Wir schaffen das‘ ihr Satz.Im Grunde schon. Aber in Bremen musste nun mal Rot-Grün diesen Satz umsetzen. Also wurden SPD und Grüne kritisiert, wenn etwas nicht so klappte, wie es klappen sollte. Dass Bildungssenatorin Claudia Bogedan bei Schul- und Kitaplätzen inzwischen aufgeholt hat, wird von vielen nicht gesehen. Stattdessen wird nur geschimpft.
Schimpfend hat man Sie als Beiratssprecher nie erlebt. Was muss eigentlich passieren, damit Sie mal aus der Haut fahren?Aus der Haut fahre ich, wenn ich Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit erlebe.
Und Ungerechtigkeit gab es im Beirat nicht?Es gab mehrere Grenzsituationen.
Und in welchen hätten Sie beinahe mit der Faust auf den Tisch gehauen?Als ich erfuhr, dass ein Mitglied des Beirats bei einer Demo der Identitären Bewegung mitmarschiert ist. Und als ich danach einen Antrag stellte, dass Beiratsvertreter bekräftigen sollen, verfassungstreu, weltoffen und antirassistisch zu sein.
Das hat der Beirat aber abgelehnt.Bedauerlicherweise. Ich hatte gehofft, dass der Beirat ein Zeichen setzen würde. Aber die Mehrheit der Fraktionen sah das anders. Das hat mich lange schwer beschäftigt.
Und wie lange wird es Sie beschäftigen, dass es jetzt eine Videoüberwachung des Bahnhofplatzes gibt, für die Ihre Fraktion keine Notwendigkeit sah?Meine Haltung bei diesem Thema ist eine andere als die mancher Fraktionskollegen. Ich will keinen Nachtwächterstaat, aber ich will einen wachsamen und starken Staat. Und der muss zeigen, dass er auf seine Bürger aufpasst. Die Bürger müssen sehen, dass gehandelt wird. Das ist wichtig für das Sicherheitsempfinden.
Sie haben auch immer betont, wie wichtig der Beirat ist – und doch wiederholt erlebt, dass Behördenvertreter, die eingeladen waren, nicht gekommen sind. Was ist aus Ihrem Vorstoß geworden, das Beirätegesetz zu ändern?Die Änderung des Beirätegesetzes ist mittlerweile in Kraft getreten. Paragraf sieben besagt jetzt, dass Behörden verpflichtet sind, einen Vertreter zu den Sitzungen zu entsenden. Außerdem müssen sie ab sofort auf einen Beschluss beziehungsweise bei Fragen des Stadtteilparlaments innerhalb von sechs Wochen antworten.
Und was droht Behörden, wenn sie das nicht machen?Das wird sich keine Senatorin und kein Senator erlauben.
Aber es muss doch eine Strafe geben, wenn gegen geltendes Recht verstoßen wird, oder?Dann wird es ein Gerichtsverfahren geben wie bei anderen Verstößen auch – wenn der Beirat das denn will.
Nicht nur der Umgang mit den Beiräten hat Sie gestört. Auch dass Beiratsmitglieder eine Fraktion verlassen und ihr Mandat für eine andere ausüben, haben Sie kritisiert. Muss es eine weitere Novelle des Beirätegesetzes geben?Ich hatte mich damals schwarzgeärgert, als das im Beirat wiederholt vorkam. Das Problem ist nur, dass es der Gesetzgeber erlaubt. Mandatsträger sind nicht einer Fraktion oder Partei verpflichtet, sondern ihrem Gewissen. Will man das ändern, muss das Grundgesetz geändert werden.
Wenn Sie es könnten: Welchen Beschluss des Stadtteilparlaments würden Sie im Nachhinein zurücknehmen?Mir fällt jetzt keiner ein.
Und was ist mit der Entscheidung, Akteneinsicht während der Verkaufsgespräche beim Hartmannstift zu nehmen?Es war ein Versuch, mehr zu erfahren, warum die Verhandlungen so lange dauern.
Aber Sie durften mit niemandem darüber sprechen, was Sie gelesen haben – nicht mal mit Beiratskollegen. Was hat die Entscheidung also gebracht?So gesehen war sie wirklich unsinnig. Wir hätten vorher ins Beirätegesetz schauen sollen. Dort steht nämlich, dass Mitglieder eines Beirats nur Einsicht in die Akten des Ortsamts nehmen können und nicht in Unterlagen anderer Behörden.
Dürfen Sie eigentlich nach der Wahl, wenn Sie also nicht mehr dem Beirat angehören, über das sprechen, was in den Akten steht?Ich muss quasi schweigen, solange ich lebe. Beiratsmitglieder sind zwar Politiker, werden aber in diesen Angelegenheiten zu Bestandteilen der Verwaltung gemacht. Das kritisiere ich sehr.
Auch vor der Wahl des Ortsamtsleiters mussten Sie schweigen: Die Kandidaten durften vorher nicht genannt werden. Warum die Geheimniskrämerei, wenn es doch um ein öffentliches Amt geht?Das Verfahren ist dem Verwaltungsrecht zugeordnet und darum kein politisches Verfahren. Die Bürgerschaft sollte mal mit den Beiräten überlegen, wie sich der Wahlprozess verändern ließe. Er muss ja nicht so bleiben, wie er jetzt ist.
Bei Ihnen wird sich dagegen ganz sicher einiges verändern: Keine Fraktions-, keine Ausschuss-, keine Beiratssitzungen mehr. Wie werden Sie die Zeit nutzen, wenn nicht mehr mit Politik?Ich bin gerne Opa – und meine Frau ist gerne Oma. Die Kinder und Enkelkinder sind uns wichtig. Es wird sicher nicht langweilig werden.
Vom Beiratspolitiker zum reinen Familienmenschen – wehmütig?Kein bisschen.
Die Fragen stellte Christian Weth.Jürgen Hartwig (67)
ist seit drei Jahren Sprecher des Vegesacker Beirats. Bei der Wahl im Mai will er nicht mehr für die SPD antreten, der er seit fast 40 Jahren angehört. Hartwig hat Sozialwissenschaften studiert, war Staatsrat der Sozialbehörde und ist jetzt Hochschullehrer für Verwaltungswissenschaften und Sozialmanagement. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und drei Enkelkinder.