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Bildungsbehörde will betroffene Kinder an die Berufsschule schicken – Eltern bevorzugen das Gymnasium Gezerre um Förderkinder

Mehr Inklusion geht nicht. Sowohl das Gymnasium Vegesack als auch die Berufsschule wollen Schüler mit geistiger Behinderung bei sich aufnehmen, wenn das bisherige Förderzentrum aufgelöst wird. Die Eltern der betroffenen Kinder haben sich längst für das Gymnasium entschieden. Doch davon will die Bildungsbehörde nichts wissen.
06.06.2013, 05:00 Uhr
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Gezerre um Förderkinder
Von Patricia Brandt

Mehr Inklusion geht nicht. Sowohl das Gymnasium Vegesack als auch die Berufsschule wollen Schüler mit geistiger Behinderung bei sich aufnehmen, wenn das bisherige Förderzentrum aufgelöst wird. Die Eltern der betroffenen Kinder haben sich längst für das Gymnasium entschieden. Doch davon will die Bildungsbehörde nichts wissen.

Vegesack. Die Nordbremer Eltern der Kinder mit Förderbedarf im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (W & E) geben sich kampfbereit. Sie setzen sich gegen eine Entscheidung der Bildungsdeputation zur Wehr, Kinder mit geistiger Behinderung nach der Auflösung des Förderzentrums Am Wasser ab dem Sommer in Klasse elf und zwölf an der Berufsschule an der Kerschensteinerstraße unterrichten zu lassen. Sie fürchten Übergriffe der Berufsschüler und sind fest entschlossen, ihre Kinder am Gymnasium zu belassen, wo diese seit der fünften Klasse unterrichtet werden.

"Wir wollen weiterhin zum Gymnasium Vegesack gehören", sagt Christina-Maria Moussalli, Elternvertreterin der W&E-Kinder. Die Kinder sollen an einem vertrauten Standort bleiben. "Gerade unsere Kinder sind auf routinierte Strukturen und feste Bezugspersonen angewiesen, um sich überhaupt auf den Lernprozess und die Lerninhalte einlassen und lernen zu können", hat die Elternvertreterin an Bildungssenatorin Eva Quante-Brandt (SPD) geschrieben.

Das Bildungsressort pocht indes auf einen Beschluss der Bildungsdeputation von Ende März, wonach die Anbindung der Schüler mit Behinderung nach der Auflösung des Förderzentrums an die Beruflichen Schulen einstimmig beschlossen wurde. "Inklusion bedeutet, dass Schüler gemeinsam unterrichtet werden", erläutert Christina Selzer, Sprecherin des Bildungsressorts. "Die Beruflichen Schulen an der Kerschensteinerstraße haben ein gutes Konzept. Es geht darum, lebenspraktische Fertigkeiten zu vermitteln."

Doch gegen die Berufsschule gibt es aufseiten der Eltern Vorbehalte. "Wir reden hier von Kindern mit Behinderungen wie Trisomie 21, Sprach- und Wahrnehmungsstörungen und Autismus – wir reden von Kindern, die sich im Zweifel einnässen und einkoten und nicht allein sein können", erläutert Elternvertreterin Moussalli. Nicht eines dieser Kinder sei in der Lage an Maschinen in der Metallwerkstatt zu arbeiten: "Das ist viel zu gefährlich."

Unterstützung bekommt die Elternvertreterin von den bisherigen Kooperationspartnern. Die Schulelternsprecherin des Gymnasiums, Anke Buhse, sagt: "Ich habe bei dem, was passiert, ein ganz schlechtes Gefühl." Die Gymnasiasten gingen "nett und wie selbstverständlich" mit den gehandicapten Schülern um. In den Beruflichen Schulen an der Kerschensteinerstraße könnte das anders sein, glaubt Buhse: "Die Klientel ist nicht ohne. Ich halte Übergriffe für nicht ausgeschlossen."

Berufliche Chancen

Die Gymnasial-Eltern stehen voll hinter dem Konzept, das Schulleiter Peter Haase erdacht hat und nach dem die W&E-Kinder von Klasse fünf bis Klasse zwölf am Gymnasium bleiben sollen. "Die Schüler liegen uns am Herzen. Sie sind inzwischen fester Bestandteil des Gymnasiums", begründet Haase sein Engagement. "Bei uns nehmen sie aktiv am Schulleben teil. Es gibt gemeinsamen Unterricht in handlungsorientierten Fächern, es gibt gemeinsame Projekte. Sie nehmen an Schulfesten teil und gehen gemeinsam auf Klassenfahrt."

Auch an der Berufsschule ist die Bereitschaft zum inklusiven Unterricht groß. Der stellvertretende Schulleiter, Jürgen Manal, hat mit Lehrkräften des Förderzentrums Am Wasser ein Konzept ausgearbeitet, wonach die Inklusion in der Werkstufe gelebt werden soll. Bedenken, dass es für die Kinder mit Behinderung gefährlich werden könnte, wenn sie gemeinsam mit Berufsschülern in der Werkstatt arbeiten, zerstreut Manal: "Wir werden keine Schüler mit Förderbedarf an Maschinen ausbilden, bei denen die sichere Bedienung nicht gewährleistet ist. Das wird nicht vorkommen. Wir sind auch keine Produktionsschule. Bei uns findet viel Handarbeit statt."

Die Palette des Angebots für die Berufsorientierung gehe an seiner Schule übrigens weit über den metalltechnischen Bereich hinaus, sagt Manal. Ab dem neuen Schuljahr ziehen nach seinen Worten zwei Gruppen des Martinshofs in das Werkstattgebäude der Beruflichen Schulen ein: "Damit werden Praktika direkt am Standort der Werkstufe möglich und sind schon fest verabredet."

Barbara Fietz, stellvertretende Leiterin des in Auflösung begriffenen Förderzentrums Am Wasser, geht sogar davon aus, dass in der Werkschule anders als am Gymnasium Bildungsabschlüsse für die Kinder mit geistiger Behinderung möglich werden. Mit dem persönlichen Kontakt zu Ausbildungsbetrieben entstünden neue Chancen: "So kriegen wir sie vielleicht auf den ersten Arbeitsmarkt."

Die Elternvertreterin der Kinder mit Förderbedarf kann sich nicht vorstellen, dass eins der betroffenen Kinder einen Abschluss schafft. Christina-Maria Moussalli hofft jetzt auf Unterstützung durch den Landesbehindertenbeauftragten Joachim Steinbrück: "Wir wollen nicht, dass unsere Kinder aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt und umgeschult werden."

KOMMENTAR

Zu unflexibel

VON PATRICIA BRANDT

Die Bereitschaft in Bremen-Nord zur Inklusion ist groß. Das ist begrüßenswert. Auf den zweiten Blick aber ist das, was in Bremen-Nord derzeit passiert, skurril: Da zanken sich Gymnasium und Berufsschule hinter den Kulissen um das Unterrichten von Kindern mit geistiger Behinderung. Ein Schul-Wettbewerb der schlimmen Sorte.

Das Gezerre soll sogar so weit gehen, dass Eltern betroffener Kinder angeblich vor der Schulwahl zu Hause angerufen und unter Druck gesetzt werden, damit sie sich für die Berufsschule entscheiden. Die Bildungsdeputation hat sich bereits auf diese Lösung festgelegt.

Dass die Schüler mit Handicap an den Standorten mit offenen Armen empfangen werden, ist nachvollziehbar. Immerhin bringt das in der Auflösung begriffene Förderzentrum Am Wasser nicht nur die Kinder mit, sondern kommt mit sieben Sonderpädagogen samt Assistenzkräften. Ein Plus, das jeder Schulleiter gerne für sein Haus verbucht.

Die Kinder mit Behinderung bedeuten außerdem eine zusätzliche Profilierung für die Schulen: Aus dem Gymnasium könnte ein Förderzentrum werden, an den beruflichen Schulen ist eine Kooperation mit dem Martinshof schon fest verabredet. Inklusion heißt in Bremen-Nord offenbar, die eigenen Interessen zu verfolgen. Die Kinder werden dabei zur Verhandlungsmasse im Wettbewerb der Schulen.

Verantwortlich für den Konflikt ist letztlich die Bildungsbehörde. Sie hat sich einmal dafür entschieden, die Kinder mit Förderbedarf nach der Auflösung der Förderzentren in Bremen an den Berufsschulen inklusiv zu unterrichten. Das Ressort ist augenscheinlich nicht in der Lage, flexibel eine Lösung zu finden, die auf die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort Rücksicht nimmt.patricia.brandt@die-norddeutsche.de

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