Am Anfang steht eine Beerdigung. Eine ernste Sache. Melancholie lässt Laura Cwiertnia in der Einstiegsszene ihres Debütromans jedoch nicht aufkommen: "Sie war zu schwer für das Leben. Die Träger heben den Sarg auf das Podest, und für einen Moment hängt er schräg in der Luft". So beginnt "Auf der Straße heißen wir anders". Für die Romanfigur Karla ist die Beerdigung der Großmutter der Anfang einer Reise in die Vergangenheit und die eigene Familiengeschichte.

Laura Cwiertnia
Laura Cwiertnia wurde 1987 als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bremen-Nord geboren. Diese Erfahrungen lässt sie in den Roman einfließen und erzählt von einer Kindheit und Jugend am Rande der Gesellschaft. Die fein gezeichneten Romanfiguren vermitteln dem Leser einen Eindruck, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören: als Verfolgter, als Gastarbeiterin oder auch als Bremen-Norder. Dort beginnt die Geschichte. Es geht um falsch ausgesprochene Namen, öde Spielplätze, Kiffen, Rundfahrten mit dem Bus, Konflikte, Videonachmittage und erste Party-Erfahrungen. Gerade für Bremen-Norder Leser entwickelt die bekannte Szenerie zwischen Vegesacker Hafen und den Aumunder Wohnblöcken einen gewissen Reiz."Der Teil über Bremen-Nord ist wichtig, weil das Leben dort die Protagonistin stark geprägt hat", erläutert die Autorin. "Sie hätte wie die anderen Kinder in ihrer Klasse auch gerne mehrere Heimaten gehabt." Doch statt von Urlaubsreisen in ferne Länder kann sie nur von Freibadbesuchen daheim erzählen.
Hier weiß der Leser noch nicht, wohin ihn der Roman führen wird. Das wird sich ändern, als die Familie das Erbe aufteilt und der für alle unbekannte Name Lilit auftaucht. Sie soll einen goldenen Armreif bekommen. Karla animiert ihren Vater zu einer Reise nach Armenien. Fortan nimmt der 240 Seiten starke Roman Fahrt auf. Die Autorin erzählt in mit Namen überschriebenen Kapiteln die Geschichte der Familie in der Gegenwart. Sie verwebt die einzelnen Erzählstränge miteinander und zusätzlich mit Rückblicken in die Vergangenheit. Der Leser erfährt über die Zeit des Vaters als Klosterschüler in Jerusalem und dass die Großmutter in den 1960er-Jahren als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland gekommen ist. Laura Cwiertnia beleuchtet dabei einfühlsam die Lebenswelt der damaligen Gastarbeiterinnen und gewährt dem Leser einen intensiven Blick von Außen auf das Deutschland der Nachkriegszeit.
Dass die Familie armenische Wurzeln hat, weiß Karla. Viel mehr allerdings nicht. Denn darüber wird in der Familie nicht gesprochen. Laura Cwiertnia zeichnet so unausgesprochen eine Parallele zur Lebenswirklichkeit in deutschen Familien – wenn auch mit gänzlich anderen Vorzeichen. Während in Deutschland kaum oder nur ungern über die Rolle der eigenen Familie im Holocaust gesprochen wird, ist es in armenischen Familien der Genozid am eigenen Volk, der nicht zur Sprache kommt. "Dabei hat jeder aus der armenischen Diaspora Bezüge zum Genozid", sagt Cwiertnia. Sie beleuchtet die durch dieses Schweigen entstandenen Verwerfungen innerhalb einer Familie. "Generationenübergreifendes Verständnis kann erst entstehen, wenn man über die Erfahrungen der Eltern oder Großeltern Bescheid weiß", sagt Cwiertnia. Der Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg gilt als einer der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts. Er kostete bis zu 1,5 Millionen Armenier und Armenierinnen das Leben.
Spannende Geschichte, sensibles Thema
Die Romanheldin nähert sich der Thematik an einer Genozid-Gedenkstätte in Armenien. Dort fragt sie sich, erinnert an eigene Albträume: "Wieso träumt man von Dingen, die man nicht erlebt hat? Und wie träumt man erst, wenn man diese Dinge erlebt hat?" Von ihrem Vater erfährt sie nicht sonderlich viel. Der genießt lieber das armenische Leben in einer Heimat, die beide zuvor nie betreten haben. Nur widerwillig lässt er sich auf die weitere Suche nach der Unbekannten namens Lilit und damit dem fehlenden Mosaiksteinchen in der Familiengeschichte ein.
Laura Cwiertnia zieht den Leser mit ihrem Schreibstil in den Bann und versteht es, ein sensibles Thema zu beleuchten und gleichzeitig eine spannende Geschichte zu erzählen.