"Mich darf man anfassen" – wo man sonst nur betrachten darf, wird jetzt sogar darum gebeten, die Kunst anzufassen. Mit neuen Tastmodellen im Overbeck-Museum wird der Museumsbesuch ein Stück weit inklusiver. 13 Stück werden bereits ausgestellt, sieben weitere sind in Planung. Doch wie kann man sich so ein Tastmodell überhaupt vorstellen?
Die Tastmodelle
Die circa 30 Mal 40 Zentimeter großen Modelle sind aus weißem Kunststoff, welcher schichtweise aufgetragen wird. Um die räumliche Darstellung eines Gemäldes begreifbar zu machen, haben die Modelle an bestimmten Stellen einen Knick. So ist beispielsweise eine in die Ferne führende Landstraße leicht abfällig und der Himmel darüber leicht aufsteigend.Der Horizont ist dabei die Knickstelle. Die Dinge, die auf den Gemälden abgebildet sind, werden greifbar, indem sie bei dem dazugehörigen Modell höher geschichtet sind und sich so vom Hintergrund abheben. Jedes Modell liegt in einem Rahmen, welcher in einem 25-Grad-Winkel aufgerichtet auf einem Holzsockel steht. "Den Winkel mussten wir bei jedem Rahmen per Hand abmessen. Das Ertasten ist so nämlich besser möglich, als wenn man von oben auf das waagerecht liegende Model greifen muss", erklärt Völkel.

Der Knick im Modell stellt den Horizont des Bildes dar.
Neben jedem Tastmodell liegt ein MP3-Player mit Kopfhörern. Darüber kann man sich die Audiodeskription anhören. Gemeinsam mit Hörfilmautorin Hela Michalski entwickelte Völkel zunächst einen Leitfaden für Audiodeskriptionen und sprach diese danach selbst ein. "Legen Sie Ihre Hände auf den unteren Rand des Modells", beginnt er das Audio. Darauf folgt eine detaillierte Beschreibung des Gemäldes. Dabei geht er unter anderem auf Formen, Größenverhältnisse aber auch Gefühle, die das Gemälde erwecken könnte, ein. Auch Kontraste, Lichtverhältnisse und Farben beschreibt er. "Es geht darum, Assoziationen zu erwecken", so Völkel. Doch auch für sehende Menschen können die Modelle eine interessante Erweiterung der Kunstwerke darstellen. "Insgeheim möchten die meisten Menschen Kunst in Museen gerne anfassen. Die Tastmodelle machen dies möglich", sagt Völkel und grinst.
Barrierefreiheit im Museum
Dass die Modelle auf Holzsockeln stehen, ist vorerst eine provisorische Lösung. "Ideal für die Ausstellung wären eigentlich Tische mit einem Stuhl davor, um die Modelle auch in Ruhe auf sich wirken lassen zu können", sagt Völkel. Auch im Hinblick auf Barrierefreiheit wären Tische von Vorteil. "Ein Mensch im Rollstuhl könnte an einen Tisch näher heranfahren, als an die Sockel", fährt er fort. Barrierefreiheit spielt im Overbeck-Museum bereits eine wichtige Rolle, obwohl das 400 Jahre Alte Gebäude nicht die günstigsten Voraussetzungen dafür bietet. Kleine Treppen werden bereits durch Rampen ersetzt und auf der Website des Museums gibt es einen Videoguide in deutscher Gebärdensprache. Doch dass das Gebäude unter Denkmalschutz steht, macht eine vollständige Barrierefreiheit unmöglich. "Trotzdem wäre es falsch, Barrierefreiheit deshalb ganz abzulehnen", findet Völkel.
Die Entwicklung
Finn Völkel ist Volontär im Overbeck-Museum. Gemeinsam mit drei Studierenden der Constructor University (CU) in Grohn begann er 2023 im Zuge des Community Impact Projects mit der Entwicklung der Tastmodelle. Geplant war ursprünglich nur ein Modell des Gemäldes "Abend im Moor". Doch Völkel wollte die Idee weiter umsetzen. Gemeinsam mit Ramin Udash, Bishesh Shrestha und Zain Samdani startete er das Projekt "Please Touch This Art" – "Bitte berühre diese Kunst". Gefördert wurden sie dabei von der Karin und Uwe Hollweg Stiftung. Sie entwickelten eine Künstliche Intelligenz (KI), die Gemälde erkennen und präzise dreidimensionale Modelle davon erschaffen kann – zumindest in der Theorie. "Man kann als sehender Mensch nicht einfach ein Modell entwickeln und beschließen, dass es für sehbehinderte- und blinde Menschen verständlich ist", stellte Völkel fest. Also begann er die Zusammenarbeit mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Bremen (BSVB) und dem Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH). So wurde jeder Prototyp des Modells des "Abend im Moor" von Betroffenen getestet. "Wir haben das Gemälde beschrieben und die Betroffenen konnten sagen, ob dies anhand des Modells verständlich wäre", erklärt Völkel. Nebenbei entwickelten sie eine Audiodeskription des Gemäldes, die ebenfalls mit den Modellen abgeglichen wurde. Insgesamt entstanden so rund 17 Prototypen.

Sigrid Dövener ertastet beim Tag der offenen Tür zum internationalen Museumstag das Tastmodell zum Werk „Liegehallen auf Föhr“ von Hermine Overbeck-Rohte.
Please Touch The Art
Was als Uni-Projekt begann, entwickelte sich zu einem Startup-Unternehmen. Völkel, Udash, Shreshta und Samdani haben „Please Touch This Art“ mittlerweile zu einer Firma weiterentwickelt. „Das hatte mit dem Projekt irgendwann nichts mehr zu tun – das war rein leidenschaftliche Arbeit“, sagt Katja Pourshirazi, Leiterin des Overbeck-Museums. Der Gedanke hinter der Firma ist, es jedem Museum zu ermöglichen, in diesem Bereich barrierefrei zu werden. Tastmodelle gibt es bereits in anderen Museen. Jedoch werden diese oft von den Künstlerinnen und Künstlern selbst hergestellt und sind somit vergleichsweise teuer. Die Materialkosten für ein 30 mal 40 Zentimeter großes Tastmodell des Projektes „Please Touch This Art“ belaufen sich auf maximal 250 Euro. Völkel wünscht sich, mit der Firma auch anderen, vor allem kleineren Museen mit geringerem Budget die Anschaffung von Tastmodellen zu ermöglichen.
Für die Zukunft haben die vier Firmengründer noch einige Weiterentwicklungen für die Tastmodelle geplant. So sollen beispielsweise die Originalrahmen der Gemälde ebenfalls als 3D-Druck angefertigt werden. Zudem ist geplant, die Titel der Kunstwerke sowie Angaben zu den Maßen der Originale in Brailleschrift an den Rahmen anzubringen. Und um sehbehinderten Menschen mit Restsehkraft zu ermöglichen, die Farben der Gemälde wahrzunehmen, sollen die Tastmodelle nicht weiß bleiben, sondern in Kontrastfarben hergestellt werden. Udash, Shreshta und Samdani haben ihr Studium mittlerweile abgeschlossen und arbeiten bereits vollzeitig in ihrer neuen Firma. „Wir als Universität hätten uns die Zusammenarbeit mit einem lokalen Unternehmen, wie in diesem Fall dem Overbeck-Museum, nicht besser vorstellen können“, sagt Max Schlenker, Projektleiter des CIP. Und die Idee der Firma scheint anzukommen: Mehrere Museen unter anderem aus Hamburg, Berlin und Lübeck haben bereits Tastmodelle für ihre Ausstellungen angefragt.