Nach der Schaffermahlzeit ist vor der Schaffermahlzeit. Von Jahr zu Jahr, aber auch von Tag zu Tag, denn es gibt Teilnehmer, denen wird binnen 24 Stunden das gleiche Menü vorgesetzt: Suppe, Stockfisch, Braunkohl, Kalbsbraten und Rigaer Butt. Immer am Sonnabend nach dem Freitag lädt Haus Seefahrt zum Prövenermahl auf den Seefahrtshof in Grohn ein. Getafelt wird im Wappensaal. Dieses Mal unter besonderen Umständen: „Uns sind die Sicherungen durchgebrannt“, teilt Klaus Thormählen den Gästen mit. Die Folge: Der Kohl bleibt zunächst kalt.
Thormählen ist der Verwaltende Kapitän. Er hat das Sagen auf dem Seefahrtshof und ist mit solch einer Ruhe und Gelassenheit gesegnet, dass er die Panne in der Küche locker wegsteckt und mit ein paar Änderungen im Ablauf kompensiert. Nach einer halben Stunde kommt der Elektriker, das Essen kann weitergehen.
Prövener – das sind die Bewohner auf dem Seefahrtshof. Alte Kapitäne, allein oder mit Frau, und Kapitänswitwen. Seit einigen Jahren gehören auch Nautik-Studenten dazu. Sie teilen sich acht Häuser mit mehr als 30 Wohnungen. Finanziert wird die Einrichtung von Haus Seefahrt, einer Stiftung zur Unterstützung notleidender Seeleute. Das Geld kommt aus Spenden, zum allergrößten Teil werden sie bei der Schaffermahlzeit gesammelt.
Schaffer schauen
Weil die Küche zwischendurch kalt bleiben muss, zieht Thormählen einen Programmpunkt vor. Die Schaffer des kommenden Jahres sollen sehen, wie auf dem Seefahrtshof gelebt wird. Sie machen eine kleine Runde durch ausgewählte Wohnungen. Christian Jacobs aus der Bremer Kaffeefamilie besucht Werner Schriefer in Haus 4. Der Kapitän, 87 Jahre alt, ist erst im vergangenen Jahr eingezogen. „Das werde ich nie bereuen“, sagt er, „ich fühle mich sauwohl.“ Die knapp 60 Quadratmeter im Erdgeschoss verteilen sich auf drei Zimmer. Es kommt viel Licht herein, und durch eines der Fenster kann man den gesamten Seefahrtshof überblicken. „So sehe ich immer, wer kommt und geht.“ Jacobs ist beeindruckt: „Toll!“
Der Jurist und Unternehmer hat zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst bereits hinter sich. Wie die anderen beiden Schaffer für 2021, Johann Smidt und Cornelius Strangemann, ist er beim Prövenermahl traditionell dafür bestimmt, die Suppe aufzugeben. „Sie löffeln sie auf, wir löffeln sie aus“, kündigt Thormählen an, als es soweit ist. Der Verwaltende Kapitän führt das Regiment beim Essen, er schlägt auch die Glocke, wenn es etwas zu sagen gibt. Seine launige und lässige Art überträgt sich auf die ganze Gesellschaft. Thormählen ist 82. Einmal, sagt er, will er's noch machen. Einmal noch für die Schaffermahlzeit und das Prövenermahl zuständig sein.
Als schließlich der Kohl serviert wird, sind alle zufrieden. Nicht nur, weil er heiß ist. Er ist auch lecker. Irmtraut Bremer tut sich ordentlich was auf, sie hat sich schon drauf gefreut: „Der Kohl ist das Beste.“ Die 93-Jährige hat mit ihrem Mann lange Zeit auf dem Seefahrtshof gewohnt und ist erst vor einem halben Jahr in ein Pflegeheim umgezogen. Der Mann, ehemaliger Verwaltender Kapitän von Haus Seefahrt, ist vor einigen Jahren gestorben. Seine Witwe schwelgt von dem Zusammenhalt, den sie in der Wohnanlage in Grohn erlebt hat. „Das ist doch schön“, sagt sie und schaut in die Runde, „finden Sie nicht?“
Vor ihr steht ein kleines Glas, jeder hat eines bekommen, und artig wird dran genippt. „Muss man mögen“, kommentiert die alte Dame den Geschmack. Sie ist diplomatisch. Das Zeug schmeckt zum Davonlaufen. Seefahrtmalz, süß und sämig, es klebt am Gaumen, und besser, man schüttet Wasser nach. Wein wäre zu schade, der ist vorzüglich und verdient so etwas nicht. Thormählen, der über Eck in der Nähe sitzt, verteidigt das sirupähnliche Getränk: „Ein Vitaminträger, gut gegen Skorbut.“ Vorher hat er schon den Stockfisch gelobt. So einen guten, sagt der Kapitän, habe er noch nicht gehabt: „Der ist ja erst einmal trocken wie ein Knüppel und muss in der Küche wieder gangbar gemacht werden.“
Zum Schluss werden wie bei der Schaffermahlzeit Tonpfeifen ausgegeben. Der Tabak steht in großen Dosen bereits auf dem Tisch. Pfeife stopfen und anstecken. Bei manchen gelingt's, bei anderen nicht. Großes Gelächter, und damit geht der Abend zu Ende.