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Kapitäne im Ruhestand Zu Hause auf dem Seefahrtshof

Es ist ein Zufluchtsort für Seeleute, die in Not geraten sind. Auf dem Seefahrtshof in Grohn verbringen Kapitäne ihren Ruhestand. Eines verbindet sie besonders: Die Liebe zum Meer und zur Tradition.
09.02.2018, 05:30 Uhr
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Zu Hause auf dem Seefahrtshof
Von Kristin Hermann

Der Zugang zum Seefahrtshof in Bremen-Grohn führt durch das barocke Tor von 1665. Trotz Kriegsfolgen und verschiedener Umzüge ist es bis heute unversehrt geblieben. Dahinter verbirgt sich eine parkähnliche Anlage, ein paar Buchen und Eichen stehen dort und am Rande ein großer Pavillon, an dem sich die Bewohner im Sommer zu Grillfesten versammeln. Die Wohneinheit liegt oberhalb des Sperrwerks nahe der Lesum. Jetzt, im Winter, sieht es dort etwas trist aus, der große schwarze Anker am Eingang glänzt noch von dem Regenschauer am Morgen. Doch wenn der Frühling erst einmal Einzug hält, spätestens dann wollen die „Prövener“, so heißen die Bewohner seit uralten Zeiten, ihr Zuhause nicht mehr missen.

Die, die eine Gabe empfangen, heißt Prövener übersetzt. Denn in den Häusern auf dem Seefahrtshof leben jene Kapitäne und ihre Ehefrauen, Witwen, Waisen und andere Seeleute, die in Not geraten und dadurch bedürftig geworden sind. Unterstützt werden sie von der Stiftung Haus Seefahrt, dem wohl ältesten Sozialfonds in ganz Europa. Wer hier wirklich bedürftig ist, darüber spricht man nur ungern offen. Einige der Bewohner zahlen zudem eine reguläre Miete.

Altersarmut bei Kapitänen? Wie kann das passieren, fragt man sich. „Das kann ganz schnell gehen“, sagt der Verwaltende Vorsteher von Haus Seefahrt, Heiner Dettmer. Dabei spiele vor allem die Ausflaggung deutscher Schiffe eine große Rolle. Wer unter ausländischer Flagge zur See fuhr, war nicht mehr verpflichtet, Sozialbeiträge zu zahlen. „Viele haben sich das Geld dann erst einmal eingesteckt, anstatt sich privat abzusichern“, sagt Dettmer. Dies sei seiner Ansicht nach gerade heute ein zunehmendes Problem.

Der Seefahrtshof wird geprägt durch acht Häuser mit Drei- und Zwei-Zimmer-Wohnungen. 44 Menschen leben dort zurzeit, neben ehemaligen Seeleuten seit einigen Jahren auch Nautik-Studenten. Mittendrin steht das Versammlungsgebäude nebst Verwaltung und Archiv von Haus Seefahrt. 1998 wurde es auf dem Gelände Grohn eingeweiht mit dem Wappensaal als zentralem Raum. Dort zieren die Originalwappen der Vorsteher, der Ober-Alten und der Verwaltenden Kapitäne seit 1586 die Wände. An einem der Tische davor sitzen an diesem Tag auch Wilhelm Hunewinkel, der selbst ein solches Wappen dort hängen hat, und sein Nachbar Klaus Müller, um von ihrem Leben auf dem Seefahrtshof zu erzählen.

Dass sich an diesem Ort alles um die Seefahrt dreht, wird schnell deutlich. Was für die einen nur ein nett anzuschauendes Gemälde mit einem Schiff drauf ist, betrachten die Kapitäne mit einem völlig anderen Blick. Die Details müssen stimmen. Nicht so wie bei einigen Gemälden an der Wand. Die Wellen brechen am Bug des Schiffes völlig unnatürlich oder die Segel auf einem der anderen Bilder – völlig falsch. Die Kapitäne nehmen es mit Humor.

Sie leben mit ihren Frauen schon seit einiger Zeit auf dem Seefahrtshof. Einmal im Monat kommen die Männer und Frauen in dem Saal zusammen, die Männer zum Umtrunk, die Frauen zum Kaffee. „Der Umtrunk ist mittlerweile aber relativ harmlos. Meistens bleibt es bei einem Gläschen Wein oder Bier, bei dem wir dann über die alten Zeiten, Politik oder die neusten Hofneuigkeiten sprechen“, sagt Wilhelm Hunewinkel. Zu den Hofneuigkeiten gehöre wie in jeder guten Nachbarschaft auch mal Tratsch. Aufgrund der Einzigartigkeit der Wohnanlage bekomme man mehr als anderswo von seinen Nachbarn mit.

Gemeinsame Essen gibt es ein paar Mal im Jahr – Grünkohl, Spargel oder Matjes. Die Schaffermahlzeit ist natürlich das Größte, und längst nicht alle Bewohner des Seefahrtshofes dürfen daran teilnehmen. Ihr Höhepunkt folgt einen Tag später, beim sogenannten Prövenermahl in Grohn, wo es die gleichen Gerichte noch einmal gibt, und es in der Regel etwas ungezwungener als im Rathaus zugeht. „Die kommenden Schaffer reichen uns dann die Suppe. Die müssen ja noch lernen“, sagt Hunewinkel und muss lachen.

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Der 87-Jährige ist derjenige, der bei den Festen im Jahr häufig selbst geschriebene Gedichte oder Kurzgeschichten vorträgt. Wenn Hunewinkel von seiner Zeit als Kapitän erzählt, dann fällt in jedem zweiten Satz der Name seines ehemaligen Arbeitgebers: der Deutschen Dampfschifffahrts-Gesellschaft „Hansa“. Die Hansa-Linie wurde 1881 in Bremen gegründet. Sie war bis zu ihrem Konkurs 1980 eine der bedeutendsten Reedereien der Welt. Die Verbundenheit zu der Reederei spürt Hunewinkel noch heute. Bereits 1962 hatte er als junger nautischer Inspektor Kontakt zum Seefahrtshof und den dort wohnenden Hansa-Kapitänen. Ein Jahr später wurde er selbst Mitglied und warb von da an selbst um neue Kapitäne, die bereit dazu waren, sich für das Sozialwerk zu engagieren. 1984 wurde er zum Seemännischen Schaffer.

Sein Kollege Klaus Müller ist mit seiner Frau Helena im Sommer 2016 auf den Seefahrtshof gezogen. In jüngeren Jahren habe er mit der Stiftung erst einmal nichts anfangen können. Jahrelang ist er als Kapitän auf Großseglern gefahren, unter anderem auf der „Alexander von Humboldt“. Knapp 20 Jahre hat er zwischenzeitlich in Schottland gewohnt. So liegt der Renteneintritt des 81-Jährigen noch gar nicht so lange zurück. Erst vor vier Jahren hat er seine Position aufgegeben.

Einer der Passagiere hatte damals das Alter des Kapitäns hinterfragt. Und damit fing Müller auch selbst an, sich Gedanken zu machen, ob er die Verantwortung noch tragen wolle. „Es muss einem in einer wichtigen Situation nur mal ein englisches Wort fehlen und es kann brenzlig werden“, sagt er. Zurück in Bremen hätten ihn viele Kollegen angesprochen, ob seine Frau und er nicht in eine der Wohnungen auf dem Seefahrtshof ziehen wollten. „Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren“, sagt Müller.

Die Geschichte von Haus Seefahrt reicht Jahrhunderte zurück. Die Gefahren der See und die zahlreichen Verluste und Unfälle früherer Zeiten haben für die hinterbliebenen Familienangehörigen oftmals zu bitterer Armut geführt. Acht Schiffer erwirkten nach einer Eingabe beim Senat 1545 die Erlaubnis zur Gründung einer Versorgungseinrichtung, genannt „Arme Seefahrt“. Als die Kasse durch Spenden und zu entrichtende Reisegelder in der Lage war, damals noch in der Hutfilterstraße das erste Haus zu kaufen, führte dies zur Umbenennung in „Haus Seefahrt“.

Die Verwaltung konnte nunmehr durch die weiterhin zur See fahrenden Schiffer allein nicht mehr bewältigt werden und wurde zu Teilen an Kaufleute übergeben. Die acht Gründungsmitglieder waren aber weiterhin als sogenannte Ober-Alte, unterstützt von 22 beratenden Schiffern, den Ältesten, für die Ordnung verantwortlich. Die Regeln und Gesetze verkündeten die Vorsteher und Ober-Alten für jeden Bewohner und Besucher sichtbar auf einer hölzernen Tafel in 17 Geboten und Regeln, die trotz aller Zeitströme und damit verbundener Anpassungen die Grundlage der gültigen Verfassung sind. Die Schaffermahlzeit ist die wichtigste Einnahmequelle der Stiftung. Neben den Bewohnern und Studenten werden aktuell 94 Witwen außerhalb des Seefahrtshofs betreut und teilweise mit Zahlungen unterstützt.

Auf dem Weg zu ihren Wohnungen zeigen Hunewinkel und Müller auf ihre Lieblingsplätze auf dem Seefahrtshof. Einer davon ist die kleine Grünfläche, die man vom Fenster aus einsehen kann. Doch gerade ziehen sich die Nachbarn untereinander auf. Ein Maulwurf treibt dort nämlich sein Unwesen und die ehemaligen Kapitäne rätseln, wie sie ihn loswerden sollen.

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Klaus Müller hat sich sein Zimmer ein bisschen so wie eine Bordkabine eingerichtet. Auf dem Regal an seinem Bett reihen sich Buddelschiffe aneinander. An der Wand darüber hängen alte Gemälde und Fotos von Schiffen, die Müller in seinem Leben etwas bedeutet haben. Für den Kapitän sind diese Überbleibsel die Verbindung zu seiner Vergangenheit. Genauso wie der Dudelsack, der neben dem Bett steht, und dessen Spiel Müller an seine Zeit in Schottland erinnert. Wenn der Kapitän heute auf das Wasser blickt, wird ihm manchmal mulmig zumute. „Ich habe das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, für das, was wir Menschen dem Meer zumuten“, sagt er und meint damit vor allem die Tonnen an Plastik, die jährlich in den Gewässern landen. Gedanken, wie diese kann Müller mit seinen Nachbarn teilen.

Generell sind das Verständnis und die Hilfsbereitschaft unter den Bewohnern groß. Mittlerweile sind darunter auch Studierende. „Mit den Alten spricht man über vergangene Zeiten, mit den Jungen über die Zukunft“, sagt Hunewinkel. In ein Heim umzuziehen, kann sich deshalb keiner der Seeleute so richtig vorstellen – die meisten von ihnen wollen ihren Ruhestand so lange wie möglich auf dem Seefahrtshof verbringen.

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