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Nürnberger Gehörlosen-Ensemble gastiert mit „Einer flog übers Kuckucksnest“ im Vegesacker Kulturbahnhof Tonloser Theater-Wahnsinn

Für einen mit allen Sinnen ausgestatteten Menschen mag es ungewohnt sein, inmitten einer Gruppe von Gehörlosen zu stehen. Es geht ruhig zu, aber Mimik und Gestik dieser Menschen sind lebhaft. Das Lautlose Theater aus Nürnberg war am Sonnabend im Kulturbahnhof mit dem Stück "Einer flog übers Kuckucksnest" zu Gast.
01.07.2013, 05:00 Uhr
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Von Volker Kölling

Für einen mit allen Sinnen ausgestatteten Menschen mag es ungewohnt sein, inmitten einer Gruppe von Gehörlosen zu stehen. Es geht ruhig zu, aber Mimik und Gestik dieser Menschen sind lebhaft. Das Lautlose Theater aus Nürnberg war am Sonnabend im Kulturbahnhof mit dem Stück "Einer flog übers Kuckucksnest" zu Gast.

VON PETER OTTO

Vegesack. Die Zuschauer unterhalten sich mit Gebärden und halten stets Augenkontakt. Gehörlose Menschen sind einander zugewandt und mitteilungsfreudig. Die Lautsprache, Töne und Geräusche sind ihnen zwar versagt, aber sie nehmen regen Anteil am gesellschaftlichen Leben.

Diese Erfahrung konnten am Sonnabend Besucher eines Theaterstückes machen, mit dem das "Lautlose Theater/Franken Deaf Show" aus Nürnberg im Kulturbahnhof gastierte. Der Theatersaal war gut gefüllt mit überwiegend gehörlosen Zuschauern. Die Aufführung dauerte mehr als drei Stunden und war ganz auf die Besucher ausgerichtet.

Auf der Bühne neun gehörlose Laienschauspieler, die mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik sowie mit unterstützender Gebärdensprache die unterhaltsame Tragikkomödie "Einer flog übers Kuckucksnest" nach dem Roman von Ken Kesey spielten. Milos Forman hat den Stoff 1975 mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Und so gehörte es auch folgerichtig zur Dramaturgie der Aufführung, dass das Bühnenspiel von selbst produzierten Filmeinspielungen ergänzt wurden.

Heilanstalt statt Gefängnis

"Cuckoo" bedeutet im Englischen "verrückt". Und das führt zum Inhalt: Um dem Knast zu entgehen, lässt sich der Kleinkriminelle McMurphy als unzurechnungsfähig erklären und in eine staatliche Psychiatrie einweisen. McMurphy ist ein unbekümmerter Draufgänger, pfiffig, unangepasst und widerspenstig. In der Klapse trifft er auf lauter schräge Vögel, die in einem menschenverachtenden System zu skurrilen Figuren verkümmert sind, seelische Krüppel, die sich in ihr eigenes Schneckenhaus zurückgezogen haben. Denn in dem Irrenhaus werden die Kranken nicht geheilt, sondern unterdrückt, gedemütigt und entblößt. Paranoid weidet sich eine machtbesessene und boshafte Oberschwester am Anblick dieser "hilflosen Seelen", an ihrer Angst und Verzweiflung.

Die einzelnen Hauptfiguren werden im Rahmen des Spiels nacheinander durch einen grellen Lichtkegel sondernd beachtet. Und da erzählen sie kurz gefasst ihre Geschichte. Alle leiden an einem gestörten Verhältnis zum anderen Geschlecht, bedingt durch eine fehlgeleitete oder mangelhafte Erziehung. Das Ergebnis sind eine rosarote Tunte, ein scheinbar sprachloser Indianer, ein ständig popelnder Schizo, ein vom Reinlichkeitsfimmel besessener Putzteufel oder ein Männer hassendes Monster in der Figur der Oberschwester. Alle sind in sich verschlossen, gemeinschaftsscheu.

McMurphy rebelliert gegen die Anstaltsroutine, will den psychiatrischen Gulag aufmischen, indem er die Patienten zum Angeln entführt, ihnen das Basketballspiel beibringt oder sie beim Pokern übers Ohr haut. Er möchte seine Mitpatienten aus ihrer autistischen Tretmühle befreien und sie zum Handeln anregen. Aufsässig legt er sich mit der Oberschwester an, revoltiert wütend und scheitert am Ende. Dabei geht es deftig zur Sache, schamlos und ohne Tabu.

Die Gesten sind oft eindeutiger, als es Worte jemals sein könnten. Das Publikum geht begeistert mit, kichert, gluckst und lacht. Ein tonloser Theater-Wahnsinn, facettenreich und eindrucksvoll.

Tonloser Theater-Wahnsinn

Nürnberger Gehörlosen-Ensemble gastiert mit „Einer flog übers Kuckucksnest“ im Vegesacker Kulturbahnhof

Vegesack. Da kommt ein Mann in Hemd und Jeans, stellt sich mit einem Stapel Manuskripte vor ein Mikrofon, erzählt zwei Stunden lang Anekdoten über Frau, Verwandtschaft und Kinder im Licht eines Scheinwerfers und am Ende ist das Publikum eines ausverkauften Kulturbahnhofs in Vegesack vollkommen zufrieden. Tatsächlich sollte man Wladimir Kaminer einmal live auf der Bühne erlebt haben, um mit seinem russischen Akzent im Hinterkopf fortan seine Bücher zu lesen.

Es gibt am Freitag Abend im Kuba Momente, in denen man sich hilfesuchend lachend umsieht, weil dem Zwergfell Überlastung droht. Wladimir Kaminer erzählt nur kurz, dass er seinen ersten Schrebergarten in Berlin nach Besuch der Prüfkommission des Gartenvereins wegen "spontaner Vegetation" aufgeben musste. Das befähigt ihn aber, als TV-Autor für den Sender Arte unter anderem nach St. Petersburg zu reisen und dort Gärten zu begutachten und alte Freunde zu treffen. Die seien inzwischen zu den anonymen Alkoholikern gestoßen. Kurz folgt betroffenes Nachdenken im Saal, bevor Kaminer aufklärt: "Diese Treffen sind in Russland anders als hier ausgerichtet: man trifft sich anonym zum Trinken."

Als Autor des Buches "Russendisko" wird der 46jährige von Veranstaltern nach der Lesung auch noch als DJ für die Russendisko gebucht - in den Weiten der USA auch schon einmal mit Alkoholverbot, wie der immer noch erstaunte Russe berichtet. Auch an seinem neuen Gartenstandort in Brandenburg, dessen Ort laut Kaminer gefühlt nur drei Einwohner hat, bekommt er seinen Auftritt im "Haus des Gastes - und mit Heiner und Matthias neue Hauptpersonen für Kurzgeschichten.

Ansonsten lernt man in den bisher unveröffentlichten Geschichten des Abends viel über die unterschiedlichen Formen von Pupertät in Berlin und Russland. O-Ton Kaminer: "In der UdSSR gab es keine Pupertät." Seine Tochter aber veranstaltet zum 16. Geburtstag eine Facebook-Party, die der Vater als Raubüberfall bezeichnet: Fortan wird jeder junge männliche Besucher seiner Tochter überprüft. Trägt der nicht Vatis ausgelatschte grüne Turnschuhe? Kaminer schließt mit viel Applaus um 22.10 Uhr: "Danke, ich fühlte mich bei Ihnen verstanden."

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