#BoykottKatar – so heißt der auf Twitter grassierende Hashtag zur Fußball-Weltmeisterschaft. Viele nutzen ihn, um sich zu positionieren, gegen Korruption, Ausbeutung und Diskriminierung, für Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen. Jetzt hat er einmal mehr neuen Aufwind bekommen, nachdem Deutschland und weitere Nationen bei der WM auf die "One Love"-Binde, ein Armband für Vielfalt, Offenheit und Toleranz, auf Druck der Fifa verzichten. Unterdessen sinken die Einschaltquoten. Beim ersten DFB-Gruppenspiel gegen Japan schauten nachmittags 9,23 Millionen Fans zu – knapp 17 Millionen weniger als beim letzten WM-Auftakt der deutschen Mannschaft zur Primetime um 18 Uhr in Moskau.
Wie es am Sonntagabend gegen Spanien aussieht, ist noch ungewiss, auch in Norddeutschland – wobei hier nach Umfragewerten des NDR etwa die Hälfte der mehr als 10.000 Befragten die Spiele dieses Mal nicht gucken will. Zwei Drittel sprechen sich sogar für einen Boykott aus. Was sagen Menschen aus Vegesack und Blumenthal dazu und wie gehen sie mit den Boykottaufrufen um?
Miriam Fricke ist Inhaberin der Fußballkneipe Horizont in Vegesack und hatte beim Match gegen Japan, das 1:2 verloren ging, elf Stunden lang geöffnet – "mit Heiligenschein", wie sie zugibt. Denn Fricke ist als Gastwirtin hin- und hergerissen. „Ich zeige die Deutschlandspiele hier, wir sind ja eine Fußballkneipe", sagt sie, "aber wir propagieren sie nicht im Übermaß". Aktuelle Forderungen, wonach sich die Elf um Hansi Flick aus Katar zurückziehen soll, kommen für sie zu spät. „Der Boykott hätte von einigen Stellen viel früher stattfinden müssen", kritisiert sie und seufzt: "Am Ende juckt es niemanden, ob wir die Spiele gucken oder nicht, außer die, die sich für die Einschaltquoten interessieren. Man fühlt sich machtlos und wie in einer Tretmühle."
"Wo fängt das an und wo hört das auf?"
Peter Moussalli, Fußballtrainer der SV Blumenthal, die zurzeit das Schlusslicht in der Bremen-Liga bildet, macht auf die Doppelmoral bei den Diskussionen rund um den Boykott aufmerksam. "In Russland sieht es mit der Menschenrechtslage auch nicht gut aus, wo fängt das also an und wo hört das auf?", fragt er. Auch zur "One Love"-Binde äußert sich der Coach und nimmt Bezug auf die Gastarbeiter, die die Stadien im Wüstenstaat unter menschenunwürdigen Bedingungen bauen mussten. "Eine Binde hilft denen nicht weiter und hat nur symbolischen Wert", so der Coach. Stattdessen appelliert er an die Fußballprofis, ihre Prämie an die Arbeiter zu spenden. "Das wäre doch mal ein starkes Signal."
Und eine moralische Instanz? Was hält die von den Boykottforderungen? Der Vegesacker Pastor Volker Keller bezeichnet sie als "unerträglich" und "Heuchelei". Mit ihnen würden nicht nur das Turnier, sondern auch jene Menschen diskreditiert, die sich auf die WM freuten. Keller ärgert vor allem die "wenig differenzierte Presseberichterstattung", ihr "verächtlicher Ton" und ihre "Daueremotionalisierung" in der Causa. Es sei "richtig, für die Rechte der Gastarbeiter einzutreten", schreibt er außerdem auf seiner Webseite, "aber eine Gleichsetzung mit europäischer Sklaverei ist maßlos überzogen". Nicht darauf hinzuweisen, dass es "osteuropäischen Arbeitern in deutschen Schlachtbetrieben" nicht besser gehe, sei "an Dreistigkeit kaum noch zu überbieten", heißt es in dem Beitrag weiter. Darüber hinaus plädiert er für die Akzeptanz, dass die Welt nicht so ist, "wie Westeuropa sie gerne hätte", so seine Worte. Dazu gehöre, dass Menschenrechte unterschiedlich interpretiert würden. Zwar könne er das Anliegen verstehen, wenn man universelle Grundrechte fordere. "Aber nicht in diesem hysterischen Tonfall", meint er.
WM-Stimmung kommt nicht auf
Am Ende drücke das alles auf die (WM-)Stimmung, finden Fricke und Moussalli. "Es fehlt aber auch das leichte Gefühl, das der Sommer mitbringt", merkt die Wirtin an. Moussalli, der erst kürzlich eine Dokumentation über die Fifa gesehen hat und seitdem völlig erschrocken über die Vergabeverfahren großer Turniere ist, wünscht sich, "dass es wieder mehr um den Sport geht", wie er betont. Wenn die Deutschen am Sonntag im zweiten Gruppenspiel gegen die Spanier auflaufen, will er zusammen mit seiner Mannschaft zuschauen. "Weil es ein besonderes Spiel ist", sagt der 50-Jährige.